Rezension

Ein wunderbarer philosophischer Roman über das Unglück der Liebe

Widerrechtliche Inbesitznahme - Lena Andersson

Widerrechtliche Inbesitznahme
von Lena Andersson

Bewertet mit 5 Sternen

Inhalt:

Ester Nilsson ist 31 Jahre alt, erfolgreiche Dichterin und Essayistin und lebt in einer funktionierenden, vernünftigen, wenn auch eingefahrenen und wenig inspirierenden Beziehung. Eines Tages erhält sie den Auftrag, über den berühmten Künstler Hugo Rask einen Vortrag zu halten; und schon während sie bei ihren Vorbereitungen und der Recherchearbeit in dessen Lebenswerk eintaucht, ist sie überaus fasziniert und gefangen von ihm und seiner Arbeit. Als der bedeutende Künstler ihrem Vortrag dann sogar selbst beiwohnt, lernt sie ihn persönlich kennen, kommt mit ihm ins Gespräch und erhält die Einladung, ihn in seinem Atelier zu besuchen.
Ester verliebt sich Hals über Kopf in den charismatischen Hugo und trifft sich immer häufiger mit ihm. Die intensiven Gespräche über Kunst und Philosophie beflügeln sie, sodass sie ihm regelrecht verfällt, sich emotional immer mehr von ihrem Freund Per entfernt und ihn schließlich verlässt. Von nun an klammert sie sich mit aller Kraft an die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft mit Hugo, der sich von der jungen Frau verstanden fühlt, ihre Bewunderung genießt, aber stets unverbindlich bleibt.

"Hugo bezog sich nie auf das, was Ester gesagt hatte. Ester bezog sich immer auf das, was Hugo gesagt hatte. Sie interessierten sich beide nicht sonderlich für Ester, aber sie interessierten sich beide sehr für Hugo."

Doch auch nachdem sie sich immer näherkommen und die erste gemeinsame Nacht verbringen, verhält er sich sehr rätselhaft, verschwindet oft für mehrere Tage, meldet sich tagelang nicht bei ihr und vertröstet sie immer wieder. Er genießt es, von Ester bewundert und vergöttert zu werden, bleibt aber unzugänglich und verliert sich in Ausflüchte. Obwohl die Ungewissheit sie innerlich fast zerfrisst und sie auch die Existenz einer anderen Frau vermutet, stellt Ester zunächst keine Fragen, die ihm unangenehm sein könnten, will nicht fordernd erscheinen oder ihm gar lästig werden. Sie gibt sich selbstbestimmt, obwohl sie ihre Autonomie längst eingebüßt hat, ist emotional vollkommen abhängig von Hugo und lebt nur noch für die Momente, die sie mit ihm verbringen kann. Ihr Dasein besteht ausschließlich aus dem sehnsüchtigen Warten auf eine Nachricht oder die nächste Begegnung und der Hoffnung, dass er ihre Gefühle eines Tages erwidert.

Der narzisstische Künstler, der stets auf der Suche nach Bestätigung ist und bewundert werden will, fühlt sich geschmeichelt und nutzt die Macht, die er über Ester hat, schamlos aus. Doch da sie zunehmend fordernder wird, distanziert sich Hugo immer mehr von ihr, entzündet aber dennoch immer wieder kleine Funken der Hoffnung, auf die sich Ester verzweifelt stürzt. Diese Hoffnung droht sie zu verschlingen und steht im ständigen Widerstreit mit der Erkenntnis, dass Hugo sie nicht liebt und ihre Beharrlichkeit ihm Angst macht, weil ein Narzisst wie er, so viel Nähe gar nicht erträgt. Auch der immer wieder auftretende “Freundinnenchor”, der, wie der Chor im klassischen griechischen Drama, räsoniert, kommentiert und Ester beharrlich zur Vernunft mahnt, vermag es nicht, zu ihr durchzudringen und ihre Hoffnung zu zerstören. Obwohl sie erkennt, dass Hugo mitnichten dem Idealbild entspricht, das sie auf ihn projiziert hat, kann sie nicht loslassen und erniedrigt sich immer wieder.
Doch Hugo schweigt, kümmert sich nicht um die seelischen Verletzungen, die er Ester mit seinem Verhalten zufügt, denn ihre Gefühle sind nicht sein Problem. Als sie ihm zunehmend lästiger wird, distanziert er sich vollends – jedoch wieder ohne ein Wort der Erklärung, denn:

"Wer verlässt, spürt keinen Schmerz. Wer verlässt, braucht nicht zu reden. Wer verlässt, ist fertig. Das ist der große Schmerz."

Meine persönliche Meinung:

Für ihren Roman Egenmäktigt förfarande, der 2015 unter dem deutschen Titel Widerrechtliche Inbesitznahme erschien, wurde die schwedische Schriftstellerin Lena Andersson 2013 mit dem renommierten August-Preis in der Kategorie Belletristik ausgezeichnet. Zurecht, wie ich finde, denn sie hat einen ganz wunderbaren philosophischen Roman über die Liebe, bzw. das Leiden an unerwiderter Liebe geschrieben. Dabei ist die Geschichte nicht besonders originell, denn Romane über verschmähte Liebende gibt es viele; außergewöhnlich ist jedoch, wie präzise und analytisch die Autorin das Leiden an unerfüllten Sehnsüchten und die zerstörerische Kraft der Hoffnung, die Liebende überhaupt in solch emotionale Abhängigkeiten geraten lässt, beschreibt. Das Buch ist so voller kluger und wunderschöner Sätze, dass man sie am liebsten alle anstreichen möchte. Die Sprache ist lakonisch, schlicht und äußerst einfühlsam, zieht den Leser vollkommen in seinen Bann und macht Esters Verletzungen ebenso nachfühlbar wie ihre immer wieder aufkeimende Hoffnung.
Der recht ungewöhnlich Titel Widerrechtliche Inbesitznahme bezieht sich gleichermaßen auf beide Hauptprotagonisten, denn nicht nur Hugo, sondern auch Ester werden widerrechtlich in Besitz genommen. Hugo, indem Ester unnachgiebig versucht, ihn für sich einzunehmen, und Ester, indem Hugo sie für seine Zwecke benutzt, sie zwar nicht liebt, aber auch nicht gehen lässt, weil er ihre Bewunderung braucht. Ester weiß:

"Hugo Rask schuldete ihr keine Liebe. Es gab kein Recht darauf, geliebt zu werden."

Ihrer Logik folgend hat sie aber zumindest das Recht auf eine Erklärung, um zu verstehen, was er empfindet. Auch wenn sie weiß, dass Hugo nicht für sie verantwortlich ist, leitet Ester aus den intimen Gesprächen und sexuellen Annäherungen eine moralische Verpflichtung zur Erklärung ab. Ein klares Nein könnte sie akzeptieren, könnte ihr helfen, sich von ihm zu befreien, aber stattdessen verharrt Hugo in seiner Unverbindlichkeit und verweigert, in der Annahme, ihr nichts schuldig zu sein, jedes klärende Gespräch. Ihr Leiden ist nicht sein Problem – für ihn besteht kein Klärungsbedarf. Kommunikation über Gefühle sind ihm fremd, machen ihm Angst, weil sie Intimität schaffen und er Nähe nicht ertragen kann. Er folgt einem ganz anderen System – dem der Ignoranz und Gleichgültigkeit gegenüber den Gefühlen anderer.

Ester und Hugo leben in unterschiedlichen Welten, in denen vollkommen verschiedene Spielregeln gelten – Ester in einer Welt mit einem unbedingten Absolutheitsanspruch an die Liebe und Hugo in einer Welt, die jegliche verbindliche Form von Liebe und Nähe ausschließt. Dass dies fatal enden muss, ist nur logisch. Blind für die Gefühle und Bedürfnisse anderer, aber getrieben von dem unbedingten Wunsch nach Bewunderung, versteht es Hugo aber sehr geschickt, Esters Hoffnung wiederholt neue Nahrung zu geben. Man kann ihm nicht vorwerfen, dass er sie nicht liebt, offenbar überhaupt nicht zur Liebe fähig ist, aber man darf ihm vorwerfen, dass er ihr stets gerade so viel Aufmerksamkeit schenkt, wie notwendig ist, um ihre hingebungsvolle Liebe am Leben zu erhalten, statt aufrichtig und offen zu sein. Und so hofft Ester weiterhin, erniedrigt sich immer wieder, aber für sie ist es keine Erniedrigung, denn in ihrer Welt, in ihrem System, ist das Leiden an und das Kämpfen für die Liebe eine noble Sache. Sie glaubt, dass sie nur lange und intensiv genug leiden muss, um sich Hugos Liebe zu verdienen.

Als Leser ist man häufig versucht, in den Freundinnenchor einzustimmen, der unablässig versucht, sie zu Vernunft zu bringen, aber jeder, der schon in Esters Situation war, weiß, wie hilflos man der Liebe ausgeliefert sein kann und Liebe ein Phänomen ist, dem mit Rationalität und gutgemeinten Ratschlägen nicht beizukommen ist.
Der Roman Widerrechliche Inbesitznahme ist eine präzise Analyse der Welt, in der unglücklich Verliebte leben und die einer eigenen Logik folgt. Gekonnt, erbarmungslos und völlig jenseits von Romantik und Kitsch seziert die Autorin die verborgenen Winkel menschlichen Fühlens und Liebens. Jeder, der schon verliebt war und das zweifelhafte Vergnügen hatte, dabei ausgerechnet an einen egozentrischen Narzissten wie Hugo geraten zu sein, wird sich in diesem Buch wiederfinden.
Ein wunderbarer und intelligenter Roman über das Unglück der Liebe, Selbstbetrug, Autonomieverlust und die zerstörerische Kraft der Hoffnung.