Rezension

Ein wunderschön erzählter Familienroman über Entzweiung, neue Chancen und den langen Weg zur Versöhnung

All die Jahre
von J. Courtney Sullivan

Bewertet mit 5 Sternen

„Kann eine Entscheidung zwei Schwestern für immer trennen?“ Mit dieser Frage bewirbt der Deuticke Verlag J. Courtney Sullivans neustes Werk – den Familienroman „All die Jahre“. Die Frage lässt bereits erahnen, dass es bei diesem Buch um Zwietracht unter Geschwistern geht, um den Bruch innerhalb einer Familie. Aber dieses Thema ist bei Weitem nicht das einzige, das die Autorin hier beleuchtet. So erzählt sie von zwar von Entzweiung und Entfremdung, aber ebenso von neuen Chancen, Veränderungen, Neuanfängen und dem unendlich langen Weg der Versöhnung.

Schöne neue Welt?

Die Schwestern Nora und Theresa Flynn sind sehr jung, als sie ihr Heimatdorf in Irland verlassen, um nach Amerika auszuwandern. In Boston soll ein neues Leben für sie beginnen. Für Nora als zukünftige Ehefrau, für Theresa als zukünftige Lehrerin. Nora, der älteren Schwester, ist es nicht leicht gefallen, alles hinter sich zu lassen – die vertraute Umgebung, den Hof ihres Vaters, die beste Freundin. Doch versucht sie, sich mit ihrem Los abzufinden und schließt ihre Zweifel und Trauer tief in ihrem Herzen ein. Theresa dagegen genießt die neue Freiheit in vollen Zügen, öffnet sich fröhlich dem amerikanischen Lebensstil und wird dabei immer leichtsinniger. Als sie sich auf einen zwielichtigen jungen Mann einlässt, gerät die neue Welt, die sich die Schwestern gerade aufbauen, gefährlich ins Wanken – und stürzt schließlich ein.

Wieder verändert sich für die beiden alles. Und Nora trifft eine Entscheidung, die letztendlich – über all die Jahre – zur völligen Entzweiung der Schwestern führen wird. Während Nora mit ihrem Mann eine Familie gründet und sich – zunächst widerwillig – in ihre Rolle als Mutter und Hausfrau einfindet, wendet sich Theresa der Religion zu und entschließt sich für ein Leben im Kloster. All die Jahre haben Nora und Theresa keinen Kontakt. Bis Noras ältester Sohn Patrick stirbt und dieser Trauerfall zu einer Begegnung führt – nach fünfzig langen Jahren.

Charakterstark

J. Courtney Sullivan erzählt die Familiengeschichte in zwei Handlungssträngen. Einer beschäftigt sich mit der Gegenwart – mit Patricks Tod und den Vorbereitungen für die Beerdigung -, der andere lässt die Schwestern zurückblicken – in ihre Jugendzeit, die Auswanderung, die ersten Jahre in der neuen Heimat und ihre Trennung. Dabei wechselt die Autorin ständig die Perspektive, schildert die Geschehnisse mal aus der Sicht von Theresa, mal von Nora oder Noras Kindern. So bekommt man einen tiefen Einblick in alle wichtigen Charaktere, kann ihre Beweggründe nachvollziehen und ihre Entscheidungen verstehen. Ob diese Entscheidungen und Verhaltensweisen als richtig zu bewerten sind – das überlässt Sullivan ihren Lesern. Sie wertet nicht, sie erzählt nur. Und das macht sie so großartig, dass man dieser Familiengeschichte mit Freude und Spannung folgt, ihren Figuren sehr nah kommt und doch manches Mal fassungslos den Kopf über sie schüttelt. Die feine Charakterzeichnung, die die Autorin bestens beherrscht, ist eine der Stärken dieses Romans und trägt dazu bei, dass diese Lektüre große Lesefreude bereitet.

Nachgefragt

Auch die Fragestellungen, die im Laufe der Handlung angeschnitten und thematisiert werden, geben dem Roman eine gewisse Tiefe. Angefangen mit der Auswanderung: Wenn man bei einem Umzug in ein neues Land alles hinter sich lässt, kann man dann nicht auch unliebsame Charakterzüge zurücklassen und in der Fremde noch einmal von Null anfangen, als neuer Mensch? Weiter mit dem ersten großen Konfliktpunkt: Gibt es überhaupt richtige oder falsche Entscheidungen? Ist nicht jede Entscheidung gewissermaßen richtig, die es gut mit dem Gegenüber meint? Und jede wiederum falsch, durch die sich negative Konsequenzen ergeben? Und letztendlich die Frage nach der Versöhnung: Ist Vergebung und Versöhnung nach solch einer langen Zeit der Entfremdung möglich? Was muss passieren, damit zwei Menschen wieder zueinanderfinden? Explizit werden diese Fragen im Buch nicht beantwortet. Und das ist auch gut so. Denn so kann sich jeder selbst auf Antwortsuche begeben.

„All die Jahre“ mag literarisch sicher nicht viel Neues zu bieten haben – Titel über Familienkonflikte gibt es bereits zuhauf -, doch ist es ein Buch, das man nur schwer aus der Hand legen kann. Es ist ein wunderschön erzählter Schmöker, der leicht zu lesen ist, teilweise nachdenklich stimmt und insgesamt wunderbar unterhält.