Rezension

ein wundervoll poetisch angehauchtes und sehr teifgründiges Werk

Die Welt ist eine Muschel - Alessandro D'Avenia

Die Welt ist eine Muschel
von Alessandro D'Avenia

Der Geruch des Meeres, ein Sprung ins Ungewisse und der Sommer deines Lebens

Ein kleiner Einblick in den Klappentext:
Der Geruch des Meeres, die Gischt der Wellen, das gleißende Licht, das sich zwischen Horizont und Himmel sammelt und Margheritas klare grüne Augen tränen lässt: Ihren 14. Geburtstag verbringt sie mit ihrem Vater auf einem Segelboot. Es ist das Ende des Sommers und der Beginn einer neuen Zeit, denn bald fängt für Margherita das Jahr an der Oberschule an. Sie hat Angst, aber der Vater beruhigt sie – alles wird gutgehen. Doch nach diesem Sommer ist für Margherita nichts mehr so, wie es einmal war. Der Vater verlässt die Familie ohne Erklärung und lässt seine Tochter mit dem unaussprechlichen Gefühl der Trauer zurück, das sie in sich einschließt wie die Perle in einer Muschel. Doch sie erfährt auch, wie es ist, wenn einen die Liebe wie ein Blitz trifft. Und sie lernt, dass man manchmal handeln muss, um das Glück festzuhalten …

Meine Gedanken zu dem Buch:

"Für Alte und Kinder dienen Worte nicht der Erklärung, Rechtfertigung, Beurteilung; sie sind wie Knoten in einem Faden, die ihnen versichern, dass die Welt noch in Ordnung ist.
Cu' nun fa lu gruppu a la gugliata, perdi lu cuntu cchiù di na vota, pflegte die Großmutter zu sagen [...]:
Wer keine Knoten macht, verliert den Faden. Auch im Leben." - Seite 19

Nach seinem Erfolgsroman "Weiß wie Milch, rot wie Blut" legt Alessandro D'Avenia nun mit "Die Welt ist eine Muschel" ein Werk nach, das Seinesgleichen sucht.
Ich muss zugeben, dass ich zuerst etwas gehemmt war aufgrund des Covers. Die Gestaltung ist wunderschön, keine Frage, aber auf den ersten Blick würde ich hierzu eine Art leichten, gefühlvollen Liebesroman erwarten. Doch als ich einen Blick auf den Klappentext geworfen hatte, wusste ich, zwischen diesen Seiten steckt mehr. Und so ist es auch! Schon nach den ersten Seite merkte ich, dass ich eine wahre Perle in den Händen halte. Unglaublich einfühlsam und mit einer gewaltigen poetischen Sprache widmet sich der Autor seinen drei Hauptprotagonisten. Er haucht ihnen auf so liebevolle und eindringliche Weise Leben ein, was in mir eine wahre Lesefreude hervorrief.
Für die vierzehnjährigen Margherita, die wie jedes Mädchen in ihrem Alter mit den typischen Problemen und Sorgen zu kämpfen hat, ist ihr Vater ihr ganz persönlicher Held. Ihm vertraut sie und sie weiß, dass sie sich auf ihn verlassen kann. Er ist ihr Fels in der Brandung. Doch plötzlich ist er nicht mehr da. Er verlässt die Familie heimlich. Ohne sich zu verabschieden, ohne Erklärung. Für Margherita bricht eine Welt zusammen. Sie fühlt sich ohnmächtig, fühlt sich, als ob ihr die Haut abgezogen würde und fast augenblicklich verschließt sich sich, verschließt ihr Innerstes, lässt nichts und niemanden an sich heran. Sie, die Perle ...
Sie gibt ihrer Mutter die Schuld und redet nicht mit ihr. Nur ihrer Nonna vertraut sie noch und mit ihr sucht sie gerne das Gespräch. Denn ihre Lebenserfahrung, ihre Weisheiten, ihre beständigen Kochrituale in der Küche beruhigen sie etwas. Sie hört ihr zu, lauscht ihren Geschichten von Sizilien und von ihrem Großvater und in ihr tobt der sehnlichste Wunsch, ihren Vater zu finden.

"Sie lachten, lachten und lachten auf die einfache Weise, die das Leben bereithält, wenn es aufhört, sich allzu ernst zu nehmen." - Seite 75

Die Literatur spielt im allgemeinen eine große Rolle, denn diese wird im wahrsten Sinne des Wortes von Margheritas Lehrer gelebt. Er geht auf in seiner Welt der Bücher, er zieht aus ihnen seine Lebensenergie. Er findet Rat und Weisheit zwischen den Zeilen, er denkt in Zitaten und die Buchstaben scheinen ihn wie einen Kokon zu umgeben. Seine Leidenschaft ist seine Passion. Doch wann wird die Passion zum Zwang? Wenn man die Bücher nicht mehr nur zur Beflügelung des Geistes verwendet, sonder diese eher als Schutzschild dienen? Als Schutzschild vor der Realität, davor, sich Entscheidungen im Leben zu stellen, dem Leben selbst zu stellen? Der Lehrer scheint sich zu verlieren und ich als Leser hätte ihn zu gerne des Öfteren wachgerüttelt. Ich war gespannt, wer diese Aufgabe übernehmen würde und in welcher Form.

"Er glaubte an Bücher wie an eine Religion und entdeckte mehr Wirklichkeit zwischen den gedruckten Zeilen als auf der Straße, oder vielleicht fürchtete er sich, unmittelbar und ohne Schutzschild eines Buches mit ihr in Berührung zu kommen." - Seite 29

Giulio und Margheritas Wege kreuzen sich am ersten Schultag auf dem Gymnasium. Nur ein kurzer Blick, der so viel sagt. Und schon ist der Moment vorüber. Doch dieser Blick ging tief. Es schien, als könnten sich die beiden bis auf die Seele blicken. Da ist etwas, wie ein unsichtbares Band. Ganz zart...
Alle drei Hauptprotagonisten sind auf der Suche. Auf der Suche nach sich selbst, nach ihrem Leben, nach Antworten auf ihre viele Fragen, nach Mut, nach Vertrauen, nach Liebe, nach dem Vater.
Ihre Wege kreuzen sich und ihre Handlungen verknüpfen sich, passen sich ein wie Puzzleteile. Margherita lässt sich vom literarischen Enthusiasmus ihres Lehrers anstecken und sucht Antworten in der aktuellen Schullektüre "Odyssee". Und plötzlich kristallisiert sich eine ganz klare Antwort für sie hervor. Sie weiß, sie muss handeln und daher lässt sie sich auf ein Abenteuer ein, ein Abenteuer ins Ungewisse.

"Und leise senkte sich die Nacht auf diese Leben wie ein Klebstoff, der heimlich alles eint und verbindet. Weit versprengte Puzzleteile bildeten ein einziges großes Bild, das eine Hand bedacht zusammenfügte, bis alles sich mit einer Schönheit füllte, die noch unsichtbar, weil unvollkommen war. Oder verwundet." - Seite 241

Alessandro D'Avenias' Art zu erzählen, begeistert ungemein. Sein poetischer, anmutiger Schreibstil erscheint wunderschön und ich kam nicht umhin, manche Satzgebilde regelrecht zu bestaunen und mein Marker schien nie stillzuliegen. Gedichte, Weisheiten und ganze Textpassagen großer Literatur durchziehen diesen Roman und machen ihn zu etwas ganz Besonderem.
Nicht nur die Hauptprotagonisten Margherita, Giulio und der Lehrer bekamen facettenreiches leben eingehaucht. Der Autor hat es auch. Ihr versäumt, sich um seine Nebenprotagonisten zu kümmern. Andrea, der kleine Bruder, der seine Gefühle und Emotionen in Bildern ausdrückt. Nonna Teresa, die ihr ganz persönliches Schicksal verarbeiten muss und Stella, die dem Leber gerne näher kommen würde als es diesem lieb ist. Und natürlich Margheritas neue Freundin Marta und deren Familie, die mich zum schmunzeln brachte.

Kurz & gut - mein persönliches Fazit
Dieses Buch bescherte mir ein wundervolles und tiefgründiges Lesevergnügen. Ich bin sehr glücklich, auf diese wahre Buchperle aufmerksam geworden zu sein und habe jede einzelne Seite mit einem Hochgenuss verschlungen, der mich so und auf diese Weise selten packt. Diese Buch verlangt nach Ruhe und Zeit. Man muss sich auf die Worte einlassen, sich von ihnen treiben lassen und sich ihnen hingeben und verzaubern lassen. Für mich ein ganz klares Lese-Highlight!

© Rezension: 2014, Alexandra
buecherkaffee.blogspot.de