Rezension

Ein zamonisches Märchen

Ensel und Krete - Walter Moers

Ensel und Krete
von Walter Moers

Bewertet mit 4 Sternen

Darum gehts:

Urlaub mit den Eltern kann so langweilig sein. Die beiden Fhernhachen-Kinder Ensel und Krete erleben das am eigenen Leibe, als sie mit ihren Eltern den zamonischen Großen Wald bereisen. Dabei hatten sie gehofft, dort endlich einmal etwas zu erleben! Und so ziehen sie auf eigene Faust los, um das Abenteuer zu suchen, verlaufen sich jedoch nach kurzer Zeit. Damit nimmt ein rasantes Märchenabenteuer seinen Lauf, bei dem selbst den Gebrüdern Grimm bald die Puste ausgegangen wäre. Die beiden Zwergenkinder treffen auf zahlreiche gefährliche oder einfach nur sonderbare Geschöpef: einen Laubwolf, Erdgnömchen, Geheimbären, Fledertratten, Schuhus, Einhörnchen, einen sprechenden Meteor und allerlei andere Seltsamkeiten. Natürlich finden auch ein Hexenhaus, und der fantasievolle Showdown hat mehr mit dem Blair Witch Project als mit unseren alten Hausmärchen gemeinsam.

Mein Eindruck:

Ensel und Krete ist, wie man am Titel sofort sieht, eine moderne Märchenadaption von "Hänsel und Gretel" aus der Feder von Walter Moers. Oder, wie man im Buch erfährt, eine Übersetzung Walter Moers' aus dem Zamonischen. Eigentlicher Autor ist angeblich der Lindwurm und Schriftsteller Hildegunst von Mythenmetz, der hypochondrische und meistgefeierte Autor der zamonischen Geschichte.

Die Geschichte spielt ein paar hundert Jahre nach den Geschehnissen aus "Die 13 1/2 Leben des Käpt'n Blaubär, der, wie sich Zamonienfans sicher erinnern, auch schon seine liebe Mühe hatte, den Großen Wald lebend wieder zu verlassen.

Das Buch ist auf drei unterschiedlichen Ebenen angesiedelt - in erster Linie erzählt es die Geschichte der achtjährigen Fhernhachenzwillinge Ensel und Krete, denen der streng organisierte Familienurlaub im Großen Wald zu langweilig ist, und die gemeinsam beschliessen, ein Abenteuer im Wald zu erleben, dessen geordnete Pfade man unter keinen Umständen verlassen darf. Natürlich verlaufen sie sich prompt, und begegnen Kreaturen, die selbst für die besonderen Verhältnisse auf Walter Moers fiktivem Kontinent Zamonien ziemlich absonderlich, verrückt und vor allem gefährlich sind. Laubwölfe, Waldspinnenhexen, Sternenstauner und Stollentrolle sind nur ein paar dieser Lebewesen, denen man auch im Hellen nicht unbedingt begegnen möchte.

Die zweite Ebene der Handlung sind die so genannten "Mythenmetzschen Abschweifungen". Diese Technik hat der Autor des Märchens, Hildegunst von Mythenmetz, nach eigenen Angaben selbst erfunden, um mit den Lesern kommunizieren und auch um die zuvor beschriebenen Szenen selbst kommentieren zu können. Gefühlt jedes Mal, wenn das Märchen an einer besonders spannende Stelle gelangt, bricht die Erzählung ab und Mythenmetz gibt seinen Senf dazu. Allerdings schweift er auch, wie der Name schon sagt, gerne mal ab, um über seine neuesten eingebildeten Krankheiten, die Einrichtung seines Schreibzimmers, oder, sein Lieblingsthema, um über seinen Erzfeind, den Literaturkritiker Laptandidel Latuda, abzulästern. 

Ihm ist die Macht über die Neugier des Lesers und die Wirkung seiner Abschweifungen durchaus bewusst - so schreibt er beispielsweise einmal über mehrere Seiten nur das Wort BRUMMLI, anstatt zu erzählen, wie es mit Ensel und Krete weitergeht - einfach nur, weil er es kann. Er ist ja der Autor, und der Leser sitzt am kürzeren Hebel.  Auch Laptandidel Latuda hat unter Mythenmetz zu leiden, denn nach dessen Schimpftiraden in den Abschweifungen - okay, er hat es auch verdient - kriegt er im Literaturbetrieb nie wieder einen Fuß auf den Boden und muss fortan eine beklagenswerte Existenz am Rand der Gesellschaft führen.

Die dritte Ebene macht den letzten Teil des Buches aus. Ensel und Kretes Geschichte ist hier schon zuende erzählt, doch Mythenmetz lässt es sich nicht nehmen, hier einen Auszug aus seiner Biographie einzufügen, die er natürlich mit lauter Hinweisen auf dieses oder jenes Werk seiner eigenen Bibliographie hinzuweisen - gar nicht selbstverliebt, Herr Mythenmetz! ;)

Der Schreibstil ist so gut wie immer. Wer ein Buch von Moers mag, dem wird der Schreibstil immer gefallen. Auch über seine Kreativität brauche ich nicht wirklich etwas sagen. Nicht jeder schafft es, sich einen kompletten Kontinent auszudenken und diesen dann so dreisimesional und lesenswert mit Fantasiegestalten aller Art zu füllen, so dass die Leser einfach nicht genug bekommen können. 

Einziger Streitpunkt des Buches sind für mich die Abschweifungen gewesen. Einerseits finde ich die Idee nicht schlecht, dass der Autor einfach mal so in den Text eingreift, andererseits waren manche Abschweifungen mir einfach, ja,  zu weit abgeschweift und störten mich eher beim Lesen. Ich hätte Ensel und Kretes Abenteuer ebenso gut verstanden, wenn ich nicht gewusst hätte, wie der Gedanke an einen ganz bestimmten Literaturkritiker auf Mythenmetz' Gallenblase wirkt. 

Ich denke allerdings, dass diese Abschweifungen von Moers strategisch ziemlich genau geplant sind, sodass man nicht  nur erfährt, wie die Story um Ensel und Krete sich entwickelt, sondern auch was für ein Lindwurm Mythenmetz ist, denn durch seine Abschweifungen erfährt man eine Menge über dessen Charakter, seine Gewohnheiten, Stärken, Schwächen und Abneigungen, vor allem aber über seine leichte Überheblichkeit. Deshalb funktioniert dieses Buch einfach nicht ohne Abschweifungen.

Für Moersfans ist Ensel und Krete unbedingt empfehlenswert, für Neueinsteiger aber rate ich eher zu "Käpt'n Blaubär" oder "Die Stadt der träumenden Bücher", da diese weniger experimentell und exzentrisch im Erzählstil sind.

Fazit:

Eine interessante Neuerzählung des Hänsel und Gretel-Stoffes mit experimentellen Autoreneinwürfen und teilweise witzigen Kommentaren zum Text und zum Autorenberuf an sich. Man bekommt nicht nur die Ensel und Kretes Abenteuer zu lesen, sondern erfährt auch eine Menge über Hildegunst von Mythenmetz und Walter Moers Kontinent Zamonien nach den "13 1/2 Leben des Käpt'n Blaubär" , und alles in der gewohnt guten Moers'schen Erzählkunst.