Rezension

Eindringlich erzählte psychologische Studie in der japanischen Provinz

Rainbirds - Clarissa Goenawan

Rainbirds
von Clarissa Goenawan

Bewertet mit 4.5 Sternen

Der junge Japaner Ren Ishido ist mit der Asche seiner Schwester unterwegs in der Kleinstadt, in der Keiko als Englisch-Lehrerin arbeitete. Seiner rund 10 Jahre älteren Schwester stand Ren sehr nahe; sie hat ihm gegenüber die Mutterrolle eingenommen.  Mit dem gewaltsamen Tod seiner Schwester konfrontiert, wird Ren bewusst, dass Keiko zwar intensiv Anteil an seinem Leben in Tokio nahm, dass er über sie jedoch kaum etwas weiß. Keikos Leben wirkt wie eine leere Tafel. Dass sie in die Provinz zog, um Abstand von ihren geschiedenen Eltern und einer unglücklichen Liebe zu bekommen, ist noch leicht nachvollziehbar. Warum verleugnete die Mutter danach Keiko und warum lebte Keiko als Single?

Als Ren vertretungsweise Keikos Stelle an einer privaten Paukschule übernimmt und auch ihr Zimmer bei Familie Katou, stellen sich ihm  weitere Fragen. Ren unterrichtet am Nachmittag und Abend und versorgt davor – genau wie Keiko zuvor - die psychisch kranke Frau Katou. Seit er im Haushalt lebt, träumt er sehr intensiv von einem bezopften kleinen Mädchen, vermutlich der als Kind verstorbenen Tochter Miyuki  Katou. Indem Ren vorrübergehend in Keikos Rolle schlüpft, scheint er sich von der Frage nach ihren Todesumständen  zunächst zu entfernen. In der Schule wird von Ren erwartet, dass er auf der anderen Seite des Pults die Erwachsenen-Rolle des Lehrers ausfüllt. Auf die Probleme seiner erwachsenen Schüler, die sich auf das Abitur vorbereiten, ist er offensichtlich nicht gefasst.

Aus dem abrupten Übergang eines jungen Mannes von der Großstadt in eine fiktive Kleinstadt und von der Uni ins Berufsleben ergeben sich hier vielfältige Interpretationsmöglichkeiten.  Rens Auseinandersetzung mit dem Tod seiner Schwester wird zur Suche nach seiner eigenen Persönlichkeit. Die Schicksale seiner Gastgeberfamilie, Kollegen und Schüler scheinen den Icherzähler  zunächst von diesem Ziel  fortzuführen, ehe sich ein logisches Ganzes zeigt. Clarissa Goenawan erzählt in einem nahezu technikfreien Setting der 90er Jahre von meist sanften, deprimiert wirkenden Figuren. Im äußeren Rahmen eines Kriminalfalls  entwickelt sie eine raffinierte psychologische Studie, deren  Sichtweise typisch japanisch wirkt, obwohl die Autorin Indonesierin ist und ihren ersten Roman auf Englisch verfasst hat.