Rezension

Eindringlich und mit leisen Worten zeichnet Nell Leyshon ein faszinierendes Bild einer Mutter-Sohn-Beziehung.

Der Wald - Nell Leyshon

Der Wald
von Nell Leyshon

Pawel wächst in einem behüteten bürgerlichen Verhältnis in Warschau auf, bis der Zweite Weltkrieg Einzug hält und seine Familie auseinander reißt. Pawels Vater engagiert sich im Widerstand gegen den Nationalsozialismus und bringt seine Familie damit in größte Gefahr. Als er einen verwundeten englischen Kampfpiloten, der im Sterben liegt, nach Hause bringt, löst er damit eine verhängnisvolle Verkettung der Geschehnisse aus. Zusammen mit seiner Mutter Zofia muss Pawel in den Wald fliehen, um sich vor den Kriegsereignissen in Sicherheit zu bringen. Im Schoße von Mutter Natur lernt Pawel von einer Frau, die alleine in einem Häuschen im Wald lebt, einiges vom Malen über den Anbau von Obst und Gemüse, dass für sein späteres Leben wegweisend sein wird. Die Monate im Wald prägen Sohn und Mutter auf unterschiedliche Weise, was sich auch noch in ihrem Leben nach dem Krieg bemerkbar macht.

Nell Leyshons erstes, ins Deutsche übersetzte, Werk “Die Farbe von Milch” war eines meiner absoluten Lesehighlights 2017. Dank einer sehr ähnlichen Covergestaltung bei “Der Wald” ist auf den ersten Blick ersichtlich, dass es sich um ein neues Werk der begabten Dramaturgin und Autorin Nell Leyshon handelt. Stilistisch finde ich den Buchumschlag auch sehr gelungen, lediglich bei der Farbgebung hätte ich auf einen Grünton, der besser zur Thematik passt, gesetzt.

Die Geschichte ist in drei Abschnitte, »Stadt«, »Wald« und »Kleinstadt« aufgeteilt, umsäumt von jeweils zwei Briefen, die zu Beginn des Buches in einer fast schon künstlerischen Darstellung die Neugier auf die Geschichte schüren.

Obwohl Nell Leyshon ihren Roman in der Zeit des Zweiten Weltkrieges angesiedelt hat, handelt es sich dabei nicht um eine typische Geschichte die sich mit den Auswüchsen und Gräueltaten des Krieges und des Nationalsozialismus ganz im Sinne des Mottos #GegendasVergessen beschäftigt. Das Augenmerk wird vielmehr auf die Auswirkungen des Krieges in einer gut situierten bürgerlichen Familie in Warschau gelenkt. Das Setting des wütenden Krieges wird nur kurz und am Rande angerissen, danach konzentriert sich die Autorin mit ihrem gefühlsbetonten Schreibstil auf die Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Gekonnt greift Nell Leyshon das Verhältnis zwischen Pawel und Zofia auf, welches sich durch die Einflüsse des Krieges und durch die Erlebnisse im Wald in stetigem Wandel befindet.

Zwischen Zofia und Pawel besteht im ersten Teil des Romans kein allzu inniges Verhältnis, erst seit dem Krieg muss sich Zofia komplett selbst um die Erziehung und Versorgung ihres Sprösslings kümmern. Dem sensiblen Jungen machen die Kriegsumstände spürbar zu schaffen und auch seine Mutter bewegt sich wie eine Balletttänzerin auf den Zehenspitzen durch die Zeit.

Im zweiten Teil des Romans tauchen wir mit Zofia und Pawel in die Welt des Waldes ein, wo sich der städtische Hintergrund Warschaus hinter dem Kriegslärm, den Essensmarken und der Frage was mit einem Teil ihrer Familie passiert ist, zurückzieht und den Blick auf einen ruhigen von der Natur getragenen Mikrokosmos schärft. Die Beziehung zwischen Mutter und Sohn distanziert sich hier deutlich, denn während Zofia in ihrem eigenen Gedankenkarussell eine Fahrt nach der anderen absolviert und sich immer mehr in der vom Krieg ausgelösten Schockstarre versteift, beginnt Pawel in der ruhige und natürlichen Umgebung aufzublühen.

Nach den Monaten im Wald wird ein abrupter Sprung vollzogen, so wird im dritten Teil des Romans Pawel zu Paul und Zofia zu Sofia. Die Entwicklung die sich in den ganzen Jahren zwischen der Zeit im Wald und der Gegenwart vollzogen haben lassen sich zunächst schwerlich greifen, werden aber nach und nach offen gelegt. In diesem letzten Teil ändert sich die Beziehung zwischen Mutter und Sohn noch ein letztes Mal. Das ganze kleidet Nell Leyshon in ein unglaublich atmosphärisches Szenario.

“Der Wald” ist ein ruhiger, unaufgeregter Roman, der die verschiedenen Phasen einer ganz besonderen Mutter-Sohn-Beziehung durchleuchtet. Zwar schlägt Nell Leyshon einen emotionalen Erzählstil an, der tief in die Gefühlslandschaft der Protagonisten blicken lässt und doch reicht die Autorin mit diesem Roman nicht ganz an ihre glanzvolle Form in “Die Farbe von Milch” heran.