Rezension

Eindringliches Protokoll eines Trauerfalles

Mein drittes Leben -

Mein drittes Leben
von Daniela Krien

Bewertet mit 5 Sternen

“Mein drittes Leben” erzählt die Geschichte von Linda, die nach dem Tod ihrer Tochter Sonja versucht, ihr Leben neu zu ordnen. Wieder einmal wirft Krien eine Figur in eine existenzielle Krise – ihrer Überzeugung folgend, dass das wahre Wesen von Menschen und Beziehungen erst im Extremfall zutage tritt. Schon der Einstieg in den Roman packt einen sofort und vermittelt mit wenigen Sätzen eine kraftvolle Charakterstudie ihrer Protagonistin.

Anfangs trauert Linda gemeinsam mit ihrem Mann Richard, doch die ständigen Erinnerungen an ihre Tochter in Leipzig treiben sie auf´s Land. Auf einem heruntergekommenen Hof östlich von Leipzig versucht sie, durch körperliche Arbeit und die Gesellschaft ihrer Tiere einen neuen Lebenssinn zu finden.

Krien erzählt die Geschichte aus Lindas Perspektive. Zwei Jahre lang folgen wir ihr Schritt für Schritt in einen Abgrund aus Trauer und Schuld. Wie konnte sie sich jemals wünschen, die sensible Sonja möge robuster sein? Ehrgeiziger? Talentierter?  Lindas unaufhörliches Elend wird zu einer Belastung für ihr Umfeld, Freundschaften zerbrechen. Nur Natascha, Mutter einer behinderten Tochter, bleibt mit ihrer ungefilterten Art für Linda erträglich – ein Zeichen dafür, wie schwer es ist, inmitten von Trauer authentische Verbindungen aufrechtzuerhalten. Bis zur Hälfte des Romans ist kein Happy End denkbar. Kleine Fortschritte, wie das Wiederentdecken des Lesens, geben zwar kurz Hoffnung, doch muss man kurz darauf fürchten, dass Linda ihrem Leben ein Ende setzen könnte. Anrührend die Geschichte von Lindas Ehe im Spannungsfeld von Ur-Sehnsüchten, Gleichberechtigungsansprüchen und patriarchaler Denkmuster. Mit Richard, der zweiten Hauptfigur des Romans, zeichnet Krien das Idealbild des modernen Mannes - ohne Machtansprüche, idealistisch, zugewandt. Aber auch Richard kämpft mit seinen Widersprüchen - seine halbherzige Beziehung zur neuen Liebe Brida und die gleichzeitige Weigerung, sich von Linda scheiden zu lassen, geben der Geschichte zusätzliche Komplexität.

Ab der Hälfte des Romans dann scheint es aufwärts zu gehen. Kann es so etwas wie Glück in Lindas drittem Leben geben? Selten habe ich eine solche Nähe zu einem fiktiven Charakter empfunden.  Krien gelingt das Kunststück, uns mit einer Figur zu fesseln, deren Verhalten man manchmal weder verstehen noch billigen kann und der man ständig zurufen möchte: Tu´s nicht!

Mir gefiel auch der Kunstgriff, durch die Augen dieser lebensmüden, desillusionierten Frau auf unsere kranke Gesellschaft zu schauen. Die beißende Ironie, mit der sie zum Beispiel das arrivierte Bildungsbürgertum vorführt, gefiel mir gut - all diese Bemühungen um Individualität, die nur zu einer anderen Konformität innerhalb der eigenen Blase führen. Besonders eindrucksvoll fand ich eine Passage, die auf weniger als einer Seite die Misere der neuen Bundesländer nach der Wiedervereinigung zusammenfasst. Diese Klarheit und Tiefe machen den Roman nicht nur emotional, sondern auch intellektuell packend.

Dazu trägt Kriens präziser, klarer und zugleich feinfühliger Stil  entscheidend bei. Ihre Sprache ist  schnörkellos und verzichtet auf übermäßige Metaphorik oder poetische Ausschmückungen. Das macht die extremen Gefühlszustände, die der Roman uns zumutet, überhaupt erst erträglich. Kriens Erzählton ist durchgängig ruhig und nachdenklich und wirkt dadurch umso eindringlicher.

All das macht „Mein drittes Leben“ zu einer zwar sehr düsteren, aber auch ungemein lohnenden Lektüre. Ich habe den Roman mit großem Gewinn gelesen. Nachdrückliche Empfehlung!