Rezension

Eindrucksvolles Buch

Unter der Drachenwand
von Arno Geiger

Ende 1943: Veit Kolbe, ein Soldat aus Wien, wird an der Kriegsfront schwer verletzt und erhält Genesungsurlaub. Den Hurra-Patriotismus seines Vaters erträgt er nicht, und so quartiert er sich auf dem Land ein: Am Mondsee, unter der Drachenwand. Doch auch in dieser idyllischen Landschaft bleibt der Krieg allgegenwärtig: Veits Wunden verheilen schlecht, immer wieder verfällt er in Angstzustände, weil seine Erinnerungen an die Kriegserlebnisse ihn überwältigen. Bombenstaffeln überqueren das Tal, um ihre Fracht in einer Stadt abzuwerfen. Eine ganze Schulklasse dreizehnjähriger Mädchen ist mit ihrer Lehrerin aus Wien in den nahegelegenen Ort Schwarzindien ausquartiert. Veit begegnet unterschiedlichsten Menschen: Seiner mürrischen Quartiersfrau, ihrem nationalsozialistischen Ehemann, der jede Gelegenheit nutzt, um sich zu bereichern, ihrem regimekritischen Bruder, der sich zurück nach Brasilien sehnt, der einsamen Lehrerin und der Schülerin Nanni, die ihren Cousin liebt und dafür von allen als frühreifes verdorbenes Früchtchen angesehen wird, Margot, die mit ihrem Baby ebenfalls im Haus wohnt und auf die Rückkehr ihres Mannes wartet, den sie kaum kennt... 

Das Buch zeichnet ein detailliertes Bild vom Leben in der Kriegszeit, von Angst, Entbehrung und Verlust. Der Haupterzählstrang wird von Veit selbst beigetragen, der in Ich-Form von seinen Erlebnissen berichtet - nüchtern und ohne jede Larmoyanz. Ohne besondere Kennzeichnung sind unterschiedliche Briefe eingestreut: Vom sechzehnjährigen Kurt an seine Cousine Nanni, von Margots Mutter an ihre Tochter und von dem Juden Oskar an seine Cousine Jeannette, die ihm und seiner Familie bei der Auswanderung helfen möchte. Dieser Erzählstrang ist äußerst bedrückend und nur lose mit Veits Erleben verknüpft. Durch diese verschiedenen Perspektiven weitet sich der Blick des Lesers.

"Unter der Drachenwand" ist ein historischer Roman, der eine Zeit ins Blickfeld rückt, die allmählich ins Vergessen gerät. Darüber hinaus greift er allgemein menschliche Themen auf: Die Suche nach Nähe und unterschiedliche Formen von Beziehungen, das Erleben von traumatisierenden Ereignissen, das Leben unter Druck. An Veit kann der Leser eine Entwicklung beobachten: Obwohl er zu Hause, in der Schule und dann als Soldat nur zu gehorchen hatte, gelingt es ihm dennoch, sich eine eigene Meinung zu bilden, sich auf eine Beziehung einzulassen, für seine Überzeugungen zu handeln und Hoffnung zu entwickeln. Das alles ist geschrieben in einer Sprache, die ohne Gefühlsduseleien auskommt, aber bei aller Nüchternheit doch sensibel, eindringlich und poetisch ist.

Das Buch steht auf der longlist zum Deutschen Buchpreis 2018; zu Recht. Da der Autor Arno Geiger diesen Preis schon einmal erhalten hat, war eine weitere Nominierung wohl nicht zu erwarten. Doch viele Wochen auf der Spiegel Bestsellerliste zeigen, dass er viele Käufer gefunden hat - und hoffentlich auch viele Leser!