Rezension

Eindrucksvolles Debüt

Die Stimme meiner Schwester -

Die Stimme meiner Schwester
von Itamar Vieira Junior

Bewertet mit 5 Sternen

MEINE MEINUNG
In dem mehrfach ausgezeichneten Debütroman Torto Arado, der nun auch in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Die Stimme meiner Schwester“ erschienen ist, erzählt der brasilianische Schriftsteller Itamar Vieira Júnior eine faszinierende, fesselnde Geschichte über zwei durch ein tragisches Ereignis eng miteinander verbundene Schwestern, Belonísia und Bibiana, und die bewegende Lebensgeschichte ihrer Familie, die als „Quilombolas“ – Nachfahren geflüchteter Sklaven – im ländlichen Nirgendwo ihr leidvolles, entbehrungsreiches Dasein auf der Fazenda Água Negra fristen.
Gekonnt macht Itamar Vieira Júnior in seinem sehr eindrucksvollen und eindringlich geschilderten Roman auf die unfassbaren Nöte von Hunderttausenden Menschen aufmerksam, die auch 130 Jahre nach offizieller Abschaffung der Sklaverei in Brasilien weiterhin in unhaltbaren Abhängigkeiten als moderne Sklaven leben müssen. Mit seinem beeindruckenden und aufrüttelnden Debüt gibt der Autor all den unterdrückten und zum Schweigen gebrachten indigenen und afrobrasilianischen Gemeinschaften im ländlichen Nordosten des Landes, die seit Hunderten von Jahren für Freiheit und ihre Landrechte kämpfen, eine Stimme.
Mit seinem bildgewaltigen Erzählstil versteht es der Autor hervorragend, uns in das karge Alltagsleben der afrobrasilianischen Plantagenarbeiter und Nachfahren ehemaliger Sklaven eintauchen zu lassen und uns die alltäglichen Ungerechtigkeiten sowie die Perspektivlosigkeit und das von Willkür und Gewalt geprägte Umfeld insbesondere für die Frauen vor Augen zu führen. Die beklemmende Intensität der Schilderungen und tragische Schicksal der Familie lassen einen nicht mehr los. Zudem gibt uns der Autor neben interessanten Hintergrundinformationen zur Geschichte des Landes äußerst faszinierende Einblicke in die überlieferten mystischen Traditionen. In sehr eindrücklich geschilderten Szenen erleben wir beispielsweise Zeca Chapéu Grande, den Vater der beiden Schwestern auf der Fazenda, als Heiler und spirituelles Oberhaupt der afro-brasilianischen Religion Jarê. Die vom Autor in sehr stimmig die Handlung einfließenden Elemente aus dem magischen Realismus übten eine besondere Faszination auf mich aus und die sehr mystische Atmosphäre, die zwischen den Zeilen mitschwingt, haben mich sehr in den Bann gezogen. Der fesselnde, eindringliche Schreibstil des Autors ist sehr lebendig und ansprechend und lässt sich auch in der Übersetzung angenehm lesen.
Gegliedert ist der Roman in drei unterschiedliche Teile, die jeweils aus einer unterschiedlichen Perspektive erzählt werden. So kommt zunächst Bibiana zu Wort, im zweiten Teil erleben wir den Fortgang der Geschichte aus Sicht der jüngeren, stummen Schwester Belonísia und im letzten Teil fließt schließlich in die Handlung auch die Sicht der „Verzauberten“ Santa Rita ein.
Hervorragend ist dem Autor die einfühlsame, vielschichtige Figurenzeichung seiner unterschiedlichen Charaktere gelungen, die sehr authentisch und lebendig wirken, so dass man sich gut in ihre Handlungen hineinversetzen kann. Man erleidet ihre Nöte, Demütigungen und Ungerechtigkeiten hautnah mit und kann auch ihren Kampf für ein besseres Leben nachvollziehen. Sehr anschaulich hat er herausgearbeitet, wie durch die Willenskraft der beiden Schwestern und die Solidarität der Frauen untereinander es möglich wird, Widerstand zu leisten und schließlich ihrer Knechtschaft und den Fesseln ihrer alten Welt zu entrinnen.
FAZIT
Eine eindrucksvoll erzählte, bewegende Familiengeschichte und eine beeindruckende Hommage an die unterdrückten indigenen und afrobrasilianischen Gemeinschaften in Brasilien! Ein anspruchsvoller und sehr lesenswerter Roman, der mit seiner hochaktuellen, bedrückenden Thematik zum Nachdenken anregt und noch länger nachwirkt!