Rezension

Eine Abenteuerfahrt, die ich nur zu gern begleitete

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek - David Whitehouse

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek
von David Whitehouse

Bewertet mit 4.5 Sternen

Anstelle des von mir erwarteteten heiter-fluffigen Romans, britischer Humor inklusive, hielt ich mit der "Reise mit der gestohlenen Bibliothek" letztlich einen Roman in der Hand, der auf unterhaltsame Weise doch von so viel mehr erzählte.

Durch eine Leseprobe war ich schon vor Erscheinen Whitmores Roman "Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek" aufmerksam geworden, welchen ich fälschlicherweise immer wieder mit "Die Reise mit der rasenden Bibliothek" bzw. "Die Reise mit der fahrenden Bibliothek" betiteln will: Der Anfang machte mich neugierig, zumal der Roman mit seinem Ende eingeläutet wird, wobei diese Szene auf mich ein wenig wie von Coelho geschrieben wirkte, den ich sehr schätze, und generell wollte ich einfach wissen, wie es zu dieser Schlussszenerie gekommen wäre. 
Natürlich kann es auch ein wenig verwirrend wirken, wenn man gleich zu Beginn quasi alle Personen um die Ohren gehauen bekommt, die zu Anfang der Geschichte noch gar nichts miteinander zu tun hatten; klar steht man da ein wenig wie der Ochs' vor'm Berge da und ich hatte doch auch noch ein kleines wenig die Befürchtung, dass die Handlung generell so verworren wirken könne, aber hernach wird sie chronologisch von Anfang an erzählt und gaaaaaaanz weit hinten habe ich zwar immer im Hinterkopf behalten, welche Figur noch fehlte bzw. auf welche Szene die Handlung letztlich hinauslaufen würde, aber dennoch konnte ich mich immer hervorragend in das gegenwärtige Geschehen einfinden und ziemlich unbekümmert lesen. 

"Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek" konzentriert sich auf den jungen Bobby Nusku, der ein akribisches Archiv für seine verschwundene Mutter erstellt; dabei bleibt zunächst unklar, was mit der Mutter geschehen ist (ob sie die Familie verlassen hat, ob sie entführt wurde, ob sie als Schwerstpflegefall oder Ähnliches in einer entsprechenden Enrichtung betreut wird, ob sie tot ist...). Sein Vater, gegenüber Bobby absolut gleichgültig und oftmals auch gewalttätig auftretend, lebt inzwischen mit seiner neuen Freundin zusammen und die Beiden sind wohl das, was heutzutage oftmals abfällig mit "white trash" bezeichnet wird.
Bobby hat kaum Freunde, eigentlich nur seinen Klassenkamerad Sunny, und wird von anderen Mitschülern regelmässig gehänselt und gedemütigt, so dass Bobby und Sunny gemeinsam beschliessen, dass Sunny zum Cyborg werden soll, um Bobby beschützen zu können. Dabei ignorieren die Beiden natürlich geflissentlich, dass so einfach aus keinem Mensch ein Stahlroboter werden kann, doch Bobby bleibt davon überzeugt, dass Sunny zum Cyborg mutiert.
Zufällig freundet er sich mit Rosa, einem behinderten Mädchen aus der Nachbarschaft an, in deren Mutter Val er auch einen Art Mutterersatz findet. Val arbeitet als Putzfrau in einem Bücherbus, doch als jener aufgegeben werden soll, was für Val einen Verlust des Arbeitsplatzes bedeutet, begibt sie sich mit Rosa und dem wieder unzählige blaue Flecken präsentierenden Bobby auf eine "Abenteuerfahrt", die zugleich eine Flucht vor der Polizei bedeutet, denn prinzipiell ist Val doch nichts als Bobbys Entführerin ...

Bobby war eine sehr hoffnungsvoll gezeichnete Figur: Er vertraute auf die Rückkehr seiner Mutter, auf Sunnys Cyborg-Verwandlung..., während Val teils sehr hektisch und unorientiert wirkte. Sie blieb mir auch bis zuletzt ein wenig fremd, vornehmlich, da ich es nicht nachvollziehen konnte, wieso sie Bobby tatsächlich kidnappte anstatt Schule, Jugendamt, Polizei zu informieren, dass er daheim Opfer häuslicher Gewalt wurde. Mir erschien das Abhauen sehr ziellos, zumal sie mit dem riesigen, prinzipiell unübersehbaren Bücherbus fortfuhren und das in Grossbritannien, wo man eben auch nicht einfach mal schnell eine Grenze überqueren und international verschwinden kann: Wäre der Roman nicht mit dem Aufeinandertreffen der Gesuchten und der Polizei begonnen, hätte man es sich also ohnehin denken können, dass diese Fahrt nirgendwohin führen würde, erst recht nicht, solange sie mit dem Bücherbus unterwegs waren. 
Lediglich in der Schlussszene hatte ich das Gefühl, dass Val tatsächlich geplant und voll bewusst handelte. 
Die Geschichte konzentrierte sich allerdings auch nahezu voll und ganz auf Bobby; ein bisschen habe ich da doch auch eine genauere Vorstellung der Val-Figur vermisst. 

Insgesamt habe ich aber die "Abenteuerfahrt", wie sie von Bobby auch wiederholt genannt wurde, ebenfalls als solche erlebt; ich hatte hier nie den Eindruck einer Entführung, sondern eher den, dass sich hier Figuren gefunden hatten, die in ihrem Alltag unabhängig voneinander eher unglücklich gewesen waren und die sich miteinander wohlfühlten und einander Verständnis und Akzeptanz entgegenbrachten, auch ganz ohne eine "wuuuuh, alle Anderen sind ganz böse und die Welt ist so schlecht!"-Jammermentalität an den Tag zu legen. Die zuvor erlebten Schlechtigkeiten schienen völlig unbedeutend geworden zu sein, solage sie nur zusammen waren. 
Ich mochte die Art, wie hier vermittelt wurde, sich auf die positiven Seiten, auf die Menschen, die man mochte und die einen selbst auch mochten, zu konzentrieren, niemanden vorzuverurteilen, ehe man ihn nicht kannte und die Hoffnung nicht zu verlieren. 

Zwischen den Zeilen gab es hier so wahnsinnig viel Optimismus, Verständnis, Fürsorge etc. zu entdecken, dass mich die Geschichte von Bobbys "Entführung" wirklich absolut in ihren Bann zu ziehen vermochte; definitiv ein sehr schönes Buch!