Rezension

Eine Abrechnung mit der Millennium-Gesellschaft

Das Glashotel -

Das Glashotel
von Emily St. John Mandel

Bewertet mit 5 Sternen

Der Roman fesselt von der ersten Zeile aufgrund seines atemberaubenden Tempos, das sich insbesondere in den schnell wechselnden Szenen - kurze Abschnitte vor diversen Kulissen und aus unterschiedlichen Perspektiven-, aber auch in der Dramatik der Handlung manifestiert. Vor den Augen des Lesers entsteht so aus detailreichen Einzelteilen ein modernes Gesellschaftsbild, das gleichermaßen schockiert, berührt und das kapitalistische Leben in Frage stellt.

Die Kanadierin Emily St. John Mandel greift in dem Roman „Das Glashotel“ das problematische „Schneeballsystem bei Geldanlagen“ auf und beleuchtet es von allen Seiten.

Die Protagonisten und Halbgeschwister, Vincent und Paul, sind zutiefst traumatisiert, da ihnen die „innere Heimat“ mangels einer glücklichen und stabilen Kindheit fehlt. Sie begeben sich daher jeder für sich auf die Suche nach ihrem Glück, die sie zu den Abgründen der Millennium-Gesellschaft führt. Dabei kreuzen sich ihre Wege nur selten, ihre Begegnungen hinterlassen aber stets tiefe Narben. Aus der verzweifelten Teenagerin Vincent wird zwischenzeitlich eine junge Barkeeperin, deren Leben in der Mittelmäßigkeit zu enden scheint. In einem abgelegenen Hotel trifft sie dann aber auf den reiche Investor Jonathan Alkaitis, mit dem sie ein Abkommen schließt, das ihr als seine „Scheingattin“ ein sorgenfreies und extrem luxuriöses Leben innerhalb der amerikanischen High Society ermöglicht. Doch auch vor dieser Kulisse sucht sie (berechtigterweise) weiter nach dem großen Lebensglück. Auf ihrer Odyssee trifft der Leser auf weitere sehr authentische „Antihelden“, die alle mit mehr oder weniger lauteren Mitteln ums Überleben kämpfen, sich Scheinwelten schaffen und in dem von Alkaitis initiierten korrupten Schneeballsystem Täter oder Opfer - manchmal auch beides – sind. 

Im Roman wird die Chronologie der Ereignisse zumeist nicht beachtet. Orientierung geben hier jedoch die Überschriften mit den jeweiligen Daten. Das Glashotel ist der Ort, an dem alle wichtigen Fäden schicksalhaft zusammenlaufen bzw. an dem die für die Finanzkrise und die persönlichen Desaster auslösenden Begegnungen erfolgen. Insofern ist der Buchtitel optimal gewählt, denn durch unterschiedlichste Erzählperspektiven suggeriert der Roman Transparenz mit Blick auf die Gesellschaft. Dabei wird letztlich deutlich, dass jede Figur auf ihrer Suche nach dem persönlichen Glück zwischen Fiktion und Realität bzw. Schein und Sein pendelt. Ein „objektives“ Bild bzw. die Darstellung einer wie auch immer gearteten Wahrheit scheint schier unmöglich. Die Vergänglichkeit des Lebens und die eines nur befristeten Glücksmomentes ist hingegen sicher.

Zurück lässt die Autorin den Leser folglich mit einem eher negativen Welt- und Menschenbild. Diese fundierte Gesellschaftskritik provoziert jedoch unglaublich tiefergreifende und epochale Reflexionen und Reaktionen. Daher habe ich die Lektüre als extrem bereichernd empfunden, zumal der Inhalt durch die Komposition des Werkes sehr spannend verpackt wurde. Ich konnte diesen Text jedenfalls kaum aus den Händen legen!