Rezension

Eine bedeutsame Verknüpfung von Identität und Schuld 

Das Paradies meines Nachbarn - Nava Ebrahimi

Das Paradies meines Nachbarn
von Nava Ebrahimi

Bewertet mit 4 Sternen

Zum Inhalt:
Sina Koshbin ist abgesehen von seinem Aussehen und seinem Namen, den er von seinem mit Abwesenheit glänzenden Vater erhalten hat, kein bisschen iranisch. Neben seinen privaten Problemen stagniert er zudem auch als Produktdesigner auf beruflicher Ebene. Dann kommt ein neuer Chef in die angesagte Designeragentur Münchens, der Iraner Ali Najjar, der durch und durch ein Erfolgstyp ist. Bereits als Kindersoldat hat er sich durch den Golfkrieg bis nach Europa gekämpft. Und auch sonst ist er ein Kämpfer und Macher, was Sina so sehr einschüchtert, dass er sich in eine Kreativpause flüchtet. Doch Ali Najjar braucht ihn noch für einen ganz besonderen Plan und nimmt ihn mit auf eine rätselhafte Reise nach Dubai. Dort lernt Sina einen weiteren Ali kennen und gewinnt dadurch einen völlig anderen Einblick in das Leben seines Chefs...

Meine Leseerfahrung:
Kindersoldaten im Golfkrieg ist schon ein hartes Thema, worüber die Autorin völlig unverschönt, nüchtern und dennoch ergreifend zu erzählen weiß. Genauso nüchtern stellt sie aber auch die Designerszene Münchens dar, die geprägt ist von stumpfer Oberflächlichkeit und banalen "Hipster"-Sorgen. Zwei völlig krasse Welten treffen hier zusammen. Aber nicht, wie erwartet, in der Person des Ali Najjar, sondern in einem weiteren Handlungsstrang um den Iraner Ali-Reza, der gefesselt an einen Rollstuhl, seinen Alltag zu meistern versucht. Zu Beginn war ich etwas verwirrt, da die Sprünge zwischen den verschiedenen Erzählsträngen sich übergangslos abwechselten, so dass ich mir nicht sicher war, ob es sich hier nur um denselben Ali handelt oder zwei verschiedene Charaktere dargestellt werden. Das Rätsel um Ali-Reza wird aber allmählich gelüftet und erst gegen Ende begreift man als Leser langsam, wie die Schicksale beider Männer miteinander verknüpft sind.

Welche Rolle Sina in dem Geschehen spielt, war mir zunächst nicht wirklich bewusst. Seine Selbstzweifel und plumpen Problemchen während seiner Midlife-Crisis fingen schon an zu nerven. Im Gegensatz zu ihm ist Ali Najjar ein frischer Wind im Designerbüro. Er scheint einen starken Charakter zu haben, weiß, was er will und wie er es bekommen kann. Und auch mit seiner Vergangenheit weckt er Neugier auf seine Person. Ich hatte zunächst einen Konkurrenzkampf der beiden Männer erwartet, obwohl Sina bei so einem Rivalen von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre. Dann kam endlich etwas Fahrt auf, als der Chef ihn regelrecht dazu zwingt, mit ihm nach Dubai zu reisen; eine klug gewählte Örtlichkeit, sozusagen neutraler Boden für beide Alis, um sich zu treffen. Erst mit Ali-Rezas Geschichte über seine Kindheit im Krieg wird der Roman emotional fesselnd und urplötzlich wirken die "Probleme" daheim völlig banal. Sina wird mit dem wirklichen Leben konfrontiert, was bei ihm ganz klar zu einer Veränderung seiner Einstellung führt. Bei Ali Najjar hingegen bleibt diese Frage nahezu unbeantwortet. Als Leser kann man nur hoffen, dass er auch seine Lektion gelernt hat und die richtige Entscheidung für sein weiteres Leben zu treffen imstande ist. 

Ich für meinen Teil habe aus diesem Buch Einiges für mich selbst notieren können, insbesondere dass unsere Entscheidungen meist immer langfristige Folgen mit sich ziehen und jede Geschichte es wert ist, erzählt zu werden. Selten hatte ich so ein Buch in Händen, dass mich auch lange nach dem Beenden so gedanklich beschäftigt hat.

Fazit:
Grandios erzählte Geschichte über ein fast vergessenes Kapitel iranischer Geschichte und über drei iranischstämmige Männer mit völlig unterschiedlichen Charakteren auf der Suche nach der eigenen Identität und ihrem Platz im Leben. Dieser Roman verdient einen besonderen Stellenwert in der Weltliteratur.