Rezension

Eine berührende Geschichte

Alle Farben der Welt - Giovanni Montanaro

Alle Farben der Welt
von Giovanni Montanaro

Bewertet mit 4.5 Sternen

"Hat nicht jeder Mensch ein Recht auf seine Geschichte?"

"Eigentlich gibt es doch niemanden, der keine Geschichte hat. Meinen Sie nicht auch? Jeder erfährt die Liebe, die Nacht, die Stille, und jeder erfährt auch die Unzuverlässigkeit der wünschenswerten guten oder schönen Dingen."

Belgien, 1881: Inmitten einer kargen Landschaft lebt die junge Teresa als Waisenkind in Obhut der Familie Vanheim in dem Städtchen Geel - in der „Stadt der Verrückten“, wie die Ortschaft seit dem Mittelalter genannt wird. Hier führen Geisteskranke und Gesunde ein gemeinsames Leben. Eines Tages taucht ein verschlossener Unbekannter auf, dem Teresa mit der Anrede „Lieber Monsieur van Gogh“ einen ergreifenden Brief widmet - und nicht zuletzt sich selbst.

Mit 'Alle Farben der Welt' gelang dem Autor Montanaro eine Art Briefroman, der nicht nur dazu einlädt, sich -  nach Beendigung der Lektüre - mit dem Leben und Wirken des Künstlers van Gogh näher zu beschäftigen, sondern den Leser ebenfalls zu schockieren weiß. Anzumerken ist jedoch, dass Vincent, wie man fälschlicherweise annehmen könnte, nicht der Protagonist der Geschichte ist, obgleich er eine wichtige Schlüsselrolle spielt. Die Begegnung mit ihm stellt ein einschneidendes Erlebnis in Teresas Leben dar, ehe es aus den Fugen gerät.

"[…] denn alles hat seine Farbe. So existiert die Welt, Monsieur van Gogh, das ist ihre Sprache. An der Farbe erkennt man, ob Früchte reif sind, ob ein Mund gesund ist, ob eine Drossel männlich oder weiblich ist, ob ein Insekt gefährlich und ein Pilz essbar ist, ob der Tag vorbei ist und das Wasser trinkbar. Ob man glücklich oder traurig ist."

Ob der Künstler sich tatsächlich in Geel aufhielt und dort verweilte, sei dahingestellt. Montanaro nutzte vielmehr eine weiße Lücke in van Goghs Biographie, um diese nicht nur zu füllen, sondern ebenfalls um eine ungewöhnliche Thematik aufgreifen und eine berührende Geschichte erzählen zu können, die ihm meiner Meinung nach überzeugend glückte.

Das Buch vereint die Entdeckung der inneren und äußeren Farbpalette der Welt sowohl mit der (Ohn-)Macht der Erinnerungen als auch der Kraft der Imagination. Die gewählte Form des Erzählens gewährt einen tiefen Einblick in die Innenwelt einer jungen Frau, deren Werdegang und Entwicklung vom Anderssein und von Abgründen geprägt ist. Die ruhige Geschichte fächert ein breites Spektrum von menschlichen Gefühlen auf.

"Zuweilen geschehen uns Dinge, die zu groß sind, die nicht in die Wörter passen und deshalb nach allen Seiten überfließen wie eine Quelle, die sich in einen bereits vollen Eimer ergießt. Vielleicht werde ich irgendwann wieder von vorne beginnen, ebenfalls alles zerreißen oder meinen Brief Wort für Wort vernichten, unerbittlich, ergeben und böse, damit jeder Satz mich verletzt, mir eine Wunde zufügt."

Sowohl Sprache als auch Schreibstil sind schlicht gehalten und weisen eine gute Leserlichkeit auf. Gerade die sprachliche Einfachheit ließ mich ob der überraschenden Wendung gen Ende hin umso bestürzter zurück. Das Entsetzen kommt sehr langsam und auf leisen Sohlen daher. Mitunter verdichtet der Autor anschauliche Bilder, wie beispielsweise:

"In Ihren Briefen ergoss sich ein Strom, ungestüm und unaufhaltsam. Doch wenn Sie redeten, waren Sie wie ein ausgetrockneter Fluss."

Nach Beendigung der Lektüre war mir - wieder einmal - bewusst, wie ergreifend eine Geschichte auf weniger als 200 Seiten erzählt werden kann, solange sie überzeugen und fesseln kann. Gerade in der Kürze besteht die heikle Schwierigkeit, dass jedes Wort umso mehr Gewicht tragen muss. Wie meisterlich dies bewältigt werden kann, bewies bereits der Autor Alessandro Baricco mit 'Seide'. Meiner Meinung nach kann Montanaro sich bei ihm einreihen, da er mich von seinem Können überzeugte, weswegen ich sein Büchlein lediglich empfehlen kann.

"Sie waren ungeschlacht, diese Zeichnungen, sie waren hässlich, doch die Dinge darauf waren so, wie sie wirklich sind. Im Grunde ist es stets die Hässlichkeit, durch die die Welt gerettet wird, und genau das kann man in Geel lernen."