Rezension

Eine besondere Familiengeschichte

Das Kuckuckskind - Hans van der Geest

Das Kuckuckskind
von Hans van der Geest

Bewertet mit 4 Sternen

„...Die Dynamik der Trauer wurde nun unwiderruflich zur Dynamik des Begehrens...“

 

Paul ist 14 Jahre alt, als sein Bruder Daniel geboren wird. Der Vater ist Klavierstimmer, aber häufig krank. Vier Jahre später stirbt der Vater.

Paul ist musikalisch begabt. Erspielt Klavier und Cello. Am Konservatorium studiert er das Fach Dirigieren. Nebenbei nimmt er sich viel Zeit für seinen kleinen Bruder. Der hat mit Musik allerdings nicht viel am Hut. Dafür ist er ein talentierter Zeichner.

Rosabella Ferretti, genannt Rosi, ist Sängerin. Ihre Begabung wird von ihrer Mutter Vera gefördert, die selbst gesungen hat, aber nie Rosis Perfektion erreichte. Als Vera die Diagnose MS erhält, festigt sich die Beziehung der beiden Frauen weiter. Rosi richtet ihre berufliche Ambitionen nach dem Gesundheitszustand der Mutter.

Als Rosi bei einem Kirchenkonzert die Stelle der Sopranistin angeboten bekommt, lernt sie Paul kennen.

Der Autor hat eine spannende und abwechslungsreiche Familiengeschichte geschrieben. Es ist eine Geschichte von Schuld und Schweigen, von Trennung und Vergeben.

In den ersten Kapiteln werden die Protagonisten ausführlich vorgestellt. Ich darf ihre Kindheit, aber auch die ersten Jahre ihrer beruflichen Entwicklung verfolgen, lerne ihre Stärken und ihre Schwächen kennen.

Rosi insbesondere neigt ab und an zu spontanen Entscheidungen. Das kann für andere schmerzlich sein. Ihre Mutter warnt sie nach einer unglücklichen Liebesbeziehung:

 

„...Es ist offensichtlich eine Kraft in dir [...], die plötzlich alle vernünftigen Überlegungen ausschalten kann. Ich meine, dass es wichtig ist, diese Tendenz in dir gut zu kennen, damit sie dich nicht wieder ins Unglück stürzt...“

 

Der Schriftstil ist über weite Strecken sachlich und trotzdem von gehobenen Standard. Das zeigt sich in Wortwahl und Satzbau und wird durch die in die Rezension eingefügten Zitate belegt. Die Emotionen der Protagonisten kommen kaum in ihren Worten, dafür in ihren Gedanken und in ihren Taten zum Ausdruck. Außerdem spiegeln sie sich vor allem bei Paul in seiner Auseinandersetzung mit der Musik wider.

 

„...Es waren nur wenige Noten, und die letzte wurde dreimal wiederholt, wie ein Klopfen. Es beschäftigte ihn, dass die Melodie in dem Stück oft abwärts ging. […] Er fand, dass sich Melancholie darin ausdrückte, von packender Intensität...“

 

Sehr gut gefallen hat mir, wie Paul mit der Homosexualität seines Bruders umgeht. Man könnte fast sagen, er hat ihn an der Hand genommen und ihm zu verstehen gegeben, dass er sein Leben so gestalten darf, wie er fühlt.

Und dann ändert eine Nacht alles. Das Wesentliche steht im Eingangszitat. Rosis Mutter stirbt. Paul ist als Dirigent in England. Daniel kümmert sich um die Trauernde. In jener Nacht wird Pablo gezeugt. Und beide schweigen – aus unterschiedlichen Gründe.

Das Geschehen aber liegt wie ein Schatten über ihren Leben. Paul, der für den Jungen sein Leben geändert und eine feste Stele angenommen hat, fühlt die alte Vertrautheit zum Bruder schwinden und kann sich nicht erklären, warum. Daniel wird von Schuldgefühlen geplagt. Rosi ist zerrissen zwischen Zukunftsangst und Selbstanklage. Gespräche verschweigen mehr, als sie sagen.

Als Pablo 14 Jahre alt ist, brechen Rosi und Daniel das Schweigen. Der Moment der Wahrheit bringt Wut und Bitterkeit, Einsamkeit und Selbstvorwürfe.

Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Einziger Kritikpunkt ist das Verhalten von Pablo. Die Wahl seines neuen Freundeskreises und die plötzliche Abkehr davon ging mir zu schnell.