Rezension

Eine dystopische Posse!

Das Flüstern der Bäume - Michael Christie

Das Flüstern der Bäume
von Michael Christie

Bewertet mit 2 Sternen

Ich verstehe, warum dieser Roman gelobt wird. Er weckt Empathie für die Natur - aber letztlich ist er doch nicht mehr als eine schlimme Posse.

Wir schreiben das Jahr 2038. Das große Welken hat eingesetzt und vernichtet die Bäume. Ohne Bäume, deren Wurzeln die Erde festhalten, staubt es über die Erde und der Staub vernichtet alles. 

Dieses Grundszenario, das Christie aber nur als Aufhänger für eine verzwickte Familiengeschichte dient, wird in dem Roman „Das Flüstern der Bäume“ nicht vertieft, sondern es murmelt lediglich im Hintergrund und dient als Bühnenbild. 

Im Vordergrund agieren in unterschiedlichen Zeitebenen die Mitglieder der Familie Greenwood, von ihren Anfängen, circa 1908 bis in die Zukunft im Jahre 2038. Allerdings wissen noch nicht alle Mitglieder der Familie von ihrem Familienglück. Da gibt es verlorengegangene Tagebücher und andere schreckliche Geheimnisse, Verfolger und Abenteuer! Eine fast verwunschene Bibliothek. Eine Farm. Man pflanzt gemeinsam Bäumchen. Was willst du mehr, Leserherz? Christie lässt nichts aus. Feuer und Brandlegung, Wirbelsturm. Flucht. Verrat. Liebe. 

Zwar ist es reizvoll, die Familiengeschichte analog von Jahresringen von Bäumen darzustellen, aber dieser Dreh reicht nicht aus, um dem Leser die vielen Plot-Twists und das Handeln der Personen als glaubwürdig oder auch nur als plausibel zu verkaufen. 

Da wird nicht nur ein Baby wochenlang wie ein Dummie durch die Gegend geschleppt, es überlebt zum Beispiel einen Sprung aus einem fahrenden Güterzug im Arm der Bezugsperson, Christie tischt dem lesenden Publikum derart viel Nonsens auf, dass einem der Mund offen stehen bleibt und man sprachlos ist. 

Am Ende der Geschichte sind zwar alle Puzzleteile an ihrem Platz, aber nur, weil Christie mit dem Holzhammer darauf herumhämmert. Was nicht passt, wird passend gemacht. Ist das Kreativität? 

Dass einem ein Autor so viel hanebüchenen Unsinn auf einmal zumuten darf, in süffiger Sprache zwar, der Roman liest sich leicht und fluffig dahin, das schon, ist eigentlich strafbar. Es sei denn, man dürfte das Ganze nicht ernstnehmen. Darf man Karl May ernstnehmen. Oder Mark Twain? Otto? Marc Uwe Kling? Der in einer Wohngemeinschaft mit einem Känguru lebt? Und wenn der Roadrunner über die Klippen fällt, steht er doch auch wieder auf, obwohl er tot sein müsste. So kann auch ein Querschnittsgelähmter wie Roadrunner … aber halt, dass müsst ihr selber entdecken. 

Anleihen von anderen Autoren gibt Christie freimütig zu. So fließen Erkenntnisse über Bäume, die Christie von Peter Wohlleben hat, ein. Na ja, immerhin. Wie viele Leute lesen schon ein Sachbuch? Wohllebens Empathie für Bäume und für die Natur verdient ein Denkmal. Gewisse Szenen in Opiumhäusern hat man auch schon anderswo gelesen. Und Lomax, der Bösewicht, erinnert entweder an den Glöckner von Notre Dame oder an den grobschlächtigen Kerl mit den kaputten Zähnen aus 007. 

Gewisse schröckliche Vergleiche „Seine Augen sehen aus als seien sie herausgekratzt, in Schweineschmalz gebraten und wieder in die Höhlen gedrückt worden" oder „Er kämpft so lange wie möglich gegen das Ausatmen an, während ihm göttliche Glocken in den Ohren klingen und seine Wirbelsäule in Genugtuung badet“ oder „phosphoreszierende Käfer der Erleichterung“ die durch einen Körper krabbeln“ gehen in der Masse von über 500 Seiten unter, von denen die meisten rasant erzählt sind. Einen Spannungsbogen versteht er aufzubauen, der Herr Christie! Da kann man nicht meckern. Und obwohl die Protagonisten oft wie Stehaufmännchen reagieren, macht ein gelegentlich ironischer Unterton des Erzählten dann doch immer wieder Spaß. 

Was ich nicht nachvollziehen kann, ist, dass die meisten Leser sich nicht im mindesten an erwähnten Vergleichen stören: die Verhunzung der deutschen Sprache ist in vollem Gange: People wehrt euch. Protestiert. Lasst euch das nicht gefallen!

 

Die ersten zweihundert Seiten des Romans übrigens sind ziemlich gut. Dafür gibt es einen zweiten Punkt. Danach hat man mehr und mehr das Gefühl, dass der Zug bald entgleist. Den ersten Punkt gibt es für die Idee der Jahresringe. 

Fazit: "Das Flüstern der Bäume" ist eine Räuberpistole mit dystopischem Einschlag, die ohne Rücksicht auf Verluste in Hinsicht auf Plausibilität oder Kausalität erzählt wird, aber Zug hat. 

Man hätte sich gewünscht, der Autor hätte ein wenig heruntergeschaltet, dann wäre es ein guter Abenteuerroman geworden. 

Aber nur dem Roadrunner nehmen wir seine Unverwüstlichkeit nicht übel. 

Kategorie: Räuberpistole (eine Kategorie, die ich eigens für diesen Roman kreieren musste).
Verlag: Penguin, 2020

Kommentare

E-möbe kommentierte am 18. Oktober 2020 um 19:11

Klingt eigentlich, als könnte es mir gefallen. Apropos Klingt ... Marc-Uwe Kling (krasse Überleitung!) sollte man auf jeden Fall ernstnehmen, egal wie lustig er ist. Spätestens seit Qualityland. 

Emswashed kommentierte am 19. Oktober 2020 um 09:31

Das hört sich großartig an und überzeugt vollkommen.... es nicht zu lesen! ;-)