Rezension

Eine Einladung zum Leben

Jenseits des Abgrunds -

Jenseits des Abgrunds
von Francesc Miralles

Bewertet mit 4 Sternen

Ein ehrlicher und erfrischend unaufgeregter Roman über das menschliche Leben in all seinen Facetten.

"Es dauerte einige Sekunden, bis mir klar wurde, dass die warme, auf der Haut kaum spürbare Berührung von der Hand des Mannes stammte, den ich suchte. Seine Finger umfassten sanft meinen Arm, und doch hatte ich das sichere Gefühl, dass sie ein unmöglich zu lösender Anker waren."

Jenseits des Abgrunds, Seite 38

Herzlichen Dank an die Penguin-Randomhouse Verlagsgruppe und den Verlag Diederichs für das Rezensionsexemplar.

Darum geht’s

Toni steckt in einer tiefen Lebenskrise. Er ist auf dem Weg, die Asche seines toten Bruders zu verstreuen und macht sich Vorwürfe, den Kontakt zu ihm abgebrochen zu haben. Am Tiefpunkt seiner Trauer und Selbstzweifel erfährt er in einer Raststätte von dem alten Japaner Kosei-San, der als Einsiedler in einem Nationalpark lebt. Dort wacht er über einen Abgrund, an den viele Menschen herantreten, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Fasziniert von dieser Geschichte macht Toni sich auf die Suche.

Mein Leseerlebnis

Überraschend positiv und versöhnlich erzählen die beiden Autoren von Menschen am Abgrund. Sie stehen aus ganz unterschiedlichen Gründen an der Felsenklippe; sind verzweifelt, traurig, sinn- und perspektivlos, sie möchten anderen nicht zur Last werden und manchmal haben sie sogar die Hoffnung, dass der Sprung der Beginn von etwas Besserem sein könnte. Jeder Mensch dort hat eine einzigartige Geschichte, die nicht bewertet oder verurteilt, sondern erzählt wird. Der Wert jedes Lebens und sei es noch so verwickelt in Schuld und Verzweiflung steht im Mittelpunkt dieser philosophischen Geschichte, die immer wieder aufzeigt, dass Neuanfänge möglich sind.

Die Geschichten der Protagonist*innen reihen sich in die der Menschen am Abgrund ein. Auch sie haben ihre Kreuze zu tragen, standen vor Trümmern und Abgründen, die sie letztlich zu diesem besonderen Ort führten. Sie sind Menschen unter Menschen. Niemand ist besser oder schlechter als der andere. Kosei-San ist Buddhist und leitet seine Haltung und Hilfe aus dieser Tradition ab. Es geht aber nicht um religiöse Aufgaben oder Pflichten, sondern um tiefe menschliche Grundvollzüge, die aus allen großen religiösen Traditionen abgeleitet werden können. Sowohl er als auch Toni sind sympathisch und ich habe mich die ganze Zeit wohl bei ihnen gefühlt, sodass mir die Vorstellung nicht schwerfiel, dass sie mit den Menschen am Abgrund gut ins Gespräch kommen können.

Der Schreibstil hat mich von Beginn an gefesselt. Der Roman liest sich leicht und ich habe ihn an zwei Abenden verschlungen. Die Sprache ist sehr klar, aber nicht nüchtern. Nichts wird kompliziert oder umständlich beschrieben, aber gleichzeitig wird den Emotionen ausreichend Raum gelassen. Der Schreibstil transportiert eine unglaubliche Ruhe und Gelassenheit angesichts menschlicher Abgründe. Für mich drückt dieses Buch in Form und Inhalt die Natur des menschlichen Lebens aus. Es ist voller Schicksale, geprägt von guten und schlechten Zeiten. Es gibt sie, die Dramen, die Verzweiflung, die Abschiede, aber auch den Neubeginn, das Kennenlernen und die Liebe. Alles ist untrennbar in unser aller Leben miteinander verflochten.

Der Roman ist weit entfernt von einem Sachbuch oder einem Lebensratgeber. Er eröffnet die Möglichkeit, das Leben der Romanfiguren aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und neue Impulse oder Reflexionen für das eigene Leben mitzunehmen. Es werden keine klugen Ratschläge, keine tiefgreifenden Lebensweisheiten oder religiöse Heilsversprechen missionarisch verbreitet. Bei diesem Buch sind die Leser*innen aufgefordert, sich selbst mit ihren Fragen auseinanderzusetzen.

Fazit

JENSEITS DES ABGRUNDS ist ein ehrlicher und erfrischend unaufgeregter Roman über das menschliche Leben in all seinen Facetten. Geschichten und Schicksale von Menschen, die sich aufgegeben haben, werden wertfrei und mit einer ruhigen Gelassenheit erzählt und verdeutlichen ohne erhobenen Zeigefinger, dass wir durchs Zuhören und durch Dialoge viel verändern können. Ich empfehle das Buch allen, die philosophische Geschichten mögen, einen positiven Blick aufs Leben richten und sich jenseits vorgegebener Meinungen mit sich selbst auseinandersetzen möchten.