Rezension

Eine emotionale Reise in die Vergangenheit

Kastanienjahre - Anja Baumheier

Kastanienjahre
von Anja Baumheier

Bewertet mit 4.5 Sternen

Ich habe Anja Baumheiers Werk als Hörbuch genießen dürfen, wundervoll interpretiert und stimmungsvoll gelesen von Sprecher Wolfgang Berger, dessen Stimme eine ausgezeichnete Wahl für diesen Roman war. Besonders hervorheben möchte ich Herrn Bergers angenehmes Lesetempo, wohl gewählte Intonation und seine deutliche Aussprache, welche die ohnehin mitreißende Wirkung der Geschichte noch verstärkt haben. 

Als junges Mädchen hätte sich die modebewusste Elise nie träumen lassen, dass sie eines Tages ihre eigene Boutique in Paris leiten würde. Die französische Hauptstadt war seit jeher ihr Sehnsuchtsort gewesen, hatte sie fasziniert und zum Lernen der Sprache motiviert – doch sie hatte sich damit abgefunden, dass eine Reise dorthin wohl für immer Wunschdenken bleiben würde, denn Elise lebte in der DDR. Während die Gedanken eines jeden Menschen frei sein mögen, waren die Einwohner des kleinen (fiktiven) mecklenburgischen Dorfes Peleroich, Elises Heimat, alles andere als das. Sie lebten ein eingeschränktes Leben, geprägt von Mangel an Konsumgütern, Angst vor Stasi-Bespitzelung und dem Parteifanatismus ihres Bürgermeisters Ludwig, der Peleroich zum Vorzeigeort des Sozialismus machen wollte. Und doch fanden sie einen Weg zwischen Anpassung und Aufgabe, lernten zu improvisieren und ihr Glück in dem Erreichbaren zu suchen. 

Dies ist eine Geschichte über die Menschen, die einst in Peleroich (das nun, bald 30 Jahre nach der Wende, abgerissen werden soll) gelebt haben. Das idyllisch gelegene Örtchen, umgeben von dichtem Wald und nahe des Ostseestrandes, ist mittlerweile wie ausgestorben. Die meisten Läden haben vor Jahren geschlossen, die Einwohner sind verstorben oder haben sich ein neues Zuhause gesucht. Manche von ihnen waren bereits zu DDR-Zeiten plötzlich wie vom Erdboden verschluckt und hinterließen eine klaffende Lücke in der Gemeinschaft. – So wie Jakob, für den Elise immer einen besonderen Platz in ihrem Herzen bewahrt hat; Jakob, den sie von klein auf gekannt und als junges Mädchen verträumt angeschaut hatte. Was war ihm zugestoßen? Hatte er eine Flucht in den Westen gewagt? Ihr beider gemeinsamer Freund, Henning, ist ebenfalls verliebt in Elise. Obwohl er so ganz und gar anders ist als der Frauenschwarm Jakob, entwickelt Elise Gefühle für ihn.

Paris, 2018: Noch immer hängt das Gemälde mit dem treffenden Titel 'Verpasste Chancen', das sie einst von Jakob geschenkt bekommen hatte, an Elises Wand. Noch immer denkt sie manchmal wehmütig an ihn zurück…und an ihre Zeit in Peleroich, an ihre Familie. "Das Herz hat Gründe, die der Verstand nicht kennt." Da erreicht sie ein anonymes Schreiben – der Verfasser behauptet, über Informationen zu verfügen, die Elises gesamtes Weltbild ins Wanken bringen werden. Um endlich Antworten auf all ihre Fragen zu erhalten, macht sich Elise zusammen mit ihrer Schulfreundin Marina auf den Weg in die Heimat… 

Erzählt wird aus mehreren Perspektiven, verteilt auf zwei Zeitebenen: Vergangenheit und Gegenwart wechseln sich ab. Anfangs hatte ich befürchtet, dass es sich bei diesem Roman hauptsächlich um eine Dreiecksbeziehung zwischen Elise, Henning und Jakob drehen würde – dies ist nicht der Fall. Stattdessen erzählt die Autorin eindringlich, schonungslos ehrlich und zugleich einfühlsam, wie das Alltagsleben in der DDR ausgesehen hat. Peleroich ist stellvertretend für so viele ehemalige DDR-Gemeinden und ihre Bürger. Der fesselnde Schreibstil hat mich sofort in die Handlung hineinkatapultiert. Mit der Zeit lernt man die wichtigsten Bewohner des Dorfes kennen und gewinnt sie richtig lieb, verfolgt den Lauf ihres Lebens und hat das Gefühl, ein Stück (Zeit-)Geschichte hautnah mitzuerleben. Freud und Leid liegen oft nah beieinander, dennoch verliert sich die Autorin nicht in Schilderungen von Negativität und Verzweiflung; vielmehr lässt sie uns am Leben ihrer Figuren teilhaben, so wie es eben war. Die lebensbejahende Einstellung der DDR-Bürger lässt sich vielleicht am besten mit den Worten von Elises gutem Freund Tarek beschreiben: "Kannst du kein Stern am Himmel sein, sei eine Lampe im Haus."

Fazit: Authentisch, berührend und intensiv. Viele historische Ereignisse geben der Handlung ihren Rahmen, vom Mauerbau bis hin zur legendären Pressekonferenz Günter Schabowskis am 09. November 1989 und der Zeit 'danach'. "Kastanienjahre" wird mir noch lange im Gedächtnis bleiben und ich kann nur allen Fans von historischen Romanen über die deutsche Vergangenheit raten, sich dieses wundervolle Werk, ob als Hörbuch oder in schriftlicher Form, nicht entgehen zu lassen.