Rezension

Eine faszinierende Geschichte über dunkle Geheimnisse und große Umbrüche

Sophies Tagebuch - Nicolas Remin

Sophies Tagebuch
von Nicolas Remin

Bewertet mit 4 Sternen

Nicolas Remin ist ein Autor, von dem ich bisher noch nichts gelesen hatte. Sein neuester Roman, der erst vor Kurzem bei Kindler erschienen ist, hat mich aber direkt angesprochen: Es geht um eine Zeit, die es mir (so makaber das vielleicht auch klingen mag) seit meiner Kindheit irgendwie angetan hat. Es geht um den Zweiten Weltkrieg, um den Mauerfall, um große Geheimnisse und um eine Tochter, die herauszufinden versucht, wer ihre Eltern wirklich waren. Die Geschichte wirkt dabei von Anfang an besonders eindringlich, was vermutlich daran liegt, dass sich der Leser in der eigentlichen Handlung an Erika zur Lindes Seite im Westberlin zur Zeit des Mauerfalls befindet, gemeinsam mit ihr aber immer wieder stückchenweise in das Tagebuch ihrer Mutter eintaucht und damit fast 50 Jahre in der Zeit zurückreist. Mir hat es gefallen, dass Erika die Vergangenheit ihrer Eltern ausgerechnet in der turbulenten Zeit der politischen Wende in Deutschland ergründet, weil die Handlung dadurch wesentlich lebendiger und authentischer wirkt.

 

Authentisch sind überhaupt die Darstellungen in Remins Roman: Die Zustände in Berlin kurz vor der Wende, Erika zur Linde, die nach dem Selbstmord ihres Vaters regelrecht in eine Existenzkrise gerät und sich Hals über Kopf in das Lesen des Tagebuchs stürzt, und ganz besonders die Tagebuchaufzeichnungen von Sophie zur Linde. Denn in diesen zeichnet Remin das Bild einer regimetreuen, jungen Frau, die gar nicht groß über Hitler nachdenkt, sondern das, was er tut quasi als gegeben hinnimmt und ihr Leben dementsprechend ausrichtet. Das ist eine Sichtweise, die einem in Romanen und Filmen über den Zweiten Weltkrieg nur selten begegnet, eben weil sie so ehrlich ist und vermutlich die Gesinnung der meisten Deutschen zu dieser Zeit hervorragend trifft. Dass Remin es dennoch schafft, dass man Erikas Mutter nicht unsympathisch findet, sondern sie vielleicht eher für unbedarft und naiv hält, ist ein mit Bravour gemeisterter Drahtseilakt. Allerdings habe ich Sophies Tagebucheinträge stellenweise als wenig schwungvoll, zu lieblos und pragmatisch für eine anfangs 19-Jährige empfunden. Ganz besonders, wenn es um Felix Auerbach geht. Es werden zwar an mehreren Stellen Erklärungen für ihre nüchternen Aufzeichnungen gemacht, mich haben diese allerdings nicht immer ganz überzeugen können. Als Charakter blieb mir Sophie zur Linde daher zu vage und blass.

 

Was mir an den Tagebucheinträgen hingegen sehr imponiert hat, ist die Differenziertheit, mit der Remin die handelnden Figuren zeichnet. In den Schilderungen von Sophie begegnen dem Leser nicht nur grausame Nazis auf der einen und die Juden auf der anderen Seite. Die Tagebucheinträge geben vielmehr Einblick in ganz verschiedene Persönlichkeiten - sie zeigen, dass auch während des Zweiten Weltkriegs nicht alles Schwarz und Weiß war. Remin stilisiert nicht, er präsentiert keine Stereotypen, sondern komplexe Figuren mit Grundsätzen und Beweggründen, die vielleicht nicht immer auf den ersten Blick zu verstehen und nachzuvollziehen sind.

 

Mich hat die Geschichte von Sophies Mutter sehr schnell in ihren Bann gezogen. Ich finde es allerdings gut, dass Remin sie sozusagen wohl dosiert in die Rahmenhandlung einbettet. Nach wenigen Tagebucheinträgen lässt er Erika zur Linde stets bei ihren Recherchen innehalten, gibt ihr und dem Leser die Gelegenheit, das Gelesene zu verarbeiten und wendet sich auch den Geschehnissen im "Hier und Jetzt", also dem Fall der Berliner Mauer, zu. Mir gefällt dabei, dass er Erika zur Linde die Entdeckungen, die sie über ihre Mutter macht, rekapitulieren und auswerten lässt - dass sie nicht nur die Augen stellt, durch die wir die Geschichte von Sophie sehen beziehungsweise lesen können, sondern dass sie immer ein aktiver Charakter bleibt - denn so hat Erika mich immer wieder zum Nachdenken angeregt und mir Aspekte gezeigt, die ich so vielleicht nicht wahrgenommen hätte. 

 

Ich habe mich nach den ersten 100 Seiten in einen regelrechten Sog gelesen, was mich anfangs ein wenig erstaunt hat, denn Remins Schreibstil ist eher nüchtern, schnörkellos und auf den Punkt - ja, an einigen Stellen mag er vielleicht sogar emotionslos wirken. Bei dieser Geschichte hat mich das aber überhaupt nicht gestört: Der Stil passt perfekt zur Handlung und zu den zwei völlig verschiedenen "Berlins", die Remin in seinem Roman skizziert. Er bleibt bei seinen Worten naturalistisch und authentisch und genau das braucht die Geschichte. 

Mein Fazit
"Sophies Tagebuch" hat mich wirklich begeistert - ich habe die Geschichte mit Faszination gelesen und jedes von Remins Worten in mich aufgesogen. Auf meisterhafte Weise verwebt er die Schicksale der unterschiedlichsten Personen miteinander und hat mich damit auf vielen Ebenen erreicht. Einzig mit Sophie zur Linde wollte ich nicht so recht warm werden, aber alles in allem war dieser Roman ein unglaublich gutes Leseerlebnis und vor allem etwas, das ich so bisher noch nicht gelesen hatte.