Rezension

Eine ganz andere Leseerfahrung!

Ich gebe dir die Sonne - Jandy Nelson

Ich gebe dir die Sonne
von Jandy Nelson

Bewertet mit 4.5 Sternen

Inhalt
Am Anfang sind Jude und ihr Zwillingsbruder Noah unzertrennlich. Noah malt ununterbrochen und verliebt sich Hals über Kopf in den neuen, faszinierenden Jungen von nebenan, während Draufgängerin Jude knallroten Lippenstift entdeckt, in ihrer Freizeit Kopfsprünge von den Klippen macht und für zwei redet. Ein paar Jahre später sprechen die Zwillinge kaum ein Wort miteinander. Etwas ist passiert, das die beiden auf unterschiedliche Art verändert und ihre Welt zerstört hat. Doch dann trifft Jude einen wilden, unwiderstehlichen Jungen und einen geheimnisvollen, charismatischen Künstler ...

Meinung
Es fällt mir tatsächlich schwer, eine Bewertung für "Ich gebe dir die Sonne" zu finden, denn es ist anders. Es sticht so heraus, dass ich zunächst gar nicht sagen konnte, ob ich nun begeistert oder perplex bin. Aber mittlerweile kann ich sagen, dass die Andersartigkeit vollkommen positiv ist. Ich gebe dir die Sonne ist ein wundervolles Buch, das den Lesealltag für ein paar Stunden erstrahlen lässt.

Gleich zu Beginn merkt man die Besonderheiten des Schreibstils, welche mir auf den ersten Seiten auch noch etwas Schwierigkeiten bereitet haben. Jandy Nelson verwendet unglaublich viele Metaphern, Vergleiche und andere abstrakte, fast übertrieben ausgedrückte Ideen, selbst um einfache Aussagen auszudrücken. Wenn einem der Schreibstil nicht zusagt, wird man auch nicht viel Freude am Buch haben, so viel steht fest. Denn er trägt wesentlich dazu bei, das Buch in besonderem Maße zu gestalten; ohne diese spezielle Ausdrucksweise würde die Geschichte nicht funktionieren.

Ganz zu schweigen davon, dass ich den Schreibstil sowieso nicht ändern wollen würde. Er verleiht Noah und Jude so viel Gefühl, Energie und Persönlichkeit. Klar, man muss sich auf ihn einlassen können und wenn jeder Autor so diffus schreiben würde wie Nelson, würde ich wahrscheinlich ausflippen. Aber so ist er einmalig für Ich gebe dir die Sonne bzw. die anderen Werke der Autorin und bietet eine bemerkenswerte Abwechslung.

Wo ich oben schon die Charaktere erwähnt habe: Noah und Jude sind Zwillinge, behaupten von sich selbst, dass sie sich eine Seele teilen - und doch ist es gelungen, bei beiden so unterschiedliche Persönlichkeiten zu entwickeln. Die Handlung wird abwechselnd erzählt, jeweils aus der Sicht des 13-jährigen und 16-jährigen Protagonisten. Weder Noah noch Jude kann man im Entferntesten als gewöhnlich bezeichnen: Noah, das Künstlertalent, hat zu jedem Ereignis die Idee im Kopf, wie es sich abstrakt zeichnen lässt, während Jude mit dem Geist ihrer Großmutter spricht und den Rat ihrer eigenen Bibel befolgt - was beispielsweise dazu führt, dass sie stets eine große Zwiebel mit sich herumträgt, um sich vor Übel zu schützen. Ja, das klingt schräg und es wird noch schräger, aber es ist auch herrlich erfrischend!
Einerseits bewundert man, wie leidenschaftlich Noah als Romantiker sein kann und wie bewegend er seine Gefühle ausdrücken kann; andererseits muss man mit Jude schmunzeln, lachen und abergläubischer werden, um die Realität nicht mehr ganz ernst zu nehmen. Wie gesagt, man muss auf eine seltsame Weise bereit für das Buch sein und so in Kauf nehmen, dass sich die zwei oft unreif oder extrem verhalten. Das gehört dazu.

Ich gebe dir die Sonne ist also in vielerlei Hinsicht eine ganz neue Leseerfahrung. Es handelt von Themen wie Erwachsenwerden, Liebe und Homosexualität, Familienkrisen und Kunst; kurz gesagt, dem Sich-selbst-finden. Und dies bereitet die Autorin wundervoll auf, wobei ich gerade die kleinen, scheinbar bedeutungslosen Einzelheiten so liebevoll finde: "mit den Händen wünschen", "Wenn ein Junge einem Mädchen eine Orange schenkt, wird ihre Liebe zu ihm um ein Vielfaches stärker werden." usw.

Fazit
"Ich gebe dir die Sonne" ist ein ganz und gar anderes Buch: außergewöhnlich, liebevoll, wunderschön. Allerdings deshalb, weil mich der Schreibstil und die Charaktere immer mehr verzaubert haben und ich mich auf die Geschichte einlassen konnte; dies wird nicht bei allen Lesern der Fall sein.

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