Rezension

Eine Geschichte, in der vieles zwischen den Zeilen verborgen liegt

Idaho - Emily Ruskovich

Idaho
von Emily Ruskovich

Bewertet mit 4.5 Sternen

"Sie fragt ihn, warum er die Handschuhe im Schrank liegen ließ, anstatt sie zu tragen. Um den Geruch zu bewahren, sagte Wade.
            Was ist das für ein Geruch?
Der eines brennenden Mäusenests.
Der letzte Geruch im Haar seiner Tochter."  S. 10

Emily Ruskovichs "Idaho" ist kein Roman, den man mal eben in kurzer Zeit weglesen kann, nicht wirklich etwas für Zwischendurch. Die Sprache fühlt sich oftmals wuchtig und schwer an, nimmt automatisch das Tempo raus, ringt einen zu Boden, genauso wie die bedrückenden Inhalte.
Wir werden durch sehr viele Rückblicke verschiedener Personen und Jahresangaben geleitet. Manchmal muss man zurückblättern und sehen, wie sich alles verbinden lässt, wann welches Ereignis auf das nächste folgte, denn Zeitsprünge sind hier keine Seltenheit. Alles ist zwar miteinander verwoben, aber an einigen Stellen kann man dies nicht auf den ersten Blick erkennen. Bei einigen Kapiteln scheint man sich sogar zu fragen, was sie mit der eigentlichen Erzählung gemeinsam haben, letztlich offenbaren sie aber eine ganz neue, mögliche Wahrheit, die nur zwischen den Zeilen existiert.

"Aber als sie sich weiter in die Geschichte hineinlas, fiel ihr auf, dass das nicht stimmte; das Wort 'Idaho' gab es in keiner Sprache. Es bedeutete nicht 'Juwel der berge', wie so viele Quellen behaupteten." S. 374

Obwohl man bereits zu Beginn den scheinbaren Ausgang, die Tragödie der Familie Mitchell erzählt bekommt, erfährt man auf den folgenden vierhundert Seiten immer mehr von den Schattenseiten, den Nuancen der Charaktere, ihrer Stärken und Schwächen. Was mich dabei besonders irritiert und im weiteren Verlauf begeistert hat, war die Art und Weise wie man an die Figuren herangeführt wird. Alle Personen, die an dem heißen Sommertag anwesend waren und den Tod einer Tochter der Familie mitbekommen haben, kommen nie selbst zu Wort. Wir lernen sie nur durch Menschen kennen, die ihnen irgendwie Nahe stehen zum Beispiel durch Wade Mitchells neue Frau oder die Zellengenossin von Jenny Mitchell. Lediglich einige Rückblicke der verstorbenen Tochter, May, werden erzählt. Die Mutter schweigt und der Vater, der Licht ins Dunkel bringen könnte, beginnt zu Vergessen.

Die Charaktere sind unterschiedlich, verfolgen aber bestimmte Ziele, offenbaren Sehnsüchte und Wünsche, aber nichts, wirklich gar nichts ist in diesem Roman geprägt von einem leichten und einfachen Leben. Immer schwingt eine kleine Wolke über einem und man erwartet zu jeder Zeit, dass es zu Regnen beginnt. Trauer ist in dieser Geschichte ein ständiger Begleiter - auch, wenn die Hoffnung an kleine Glücksmomente, wie ein schmaler Sonnenschein, durchzukommen versucht.
Für mich war es tatsächlich so, dass ich selbst über einige Strecken hinweg, während des Lesens, im Dunkeln getappt bin. Ich wusste mit vielen Dingen nichts anzufangen, einige Einschübe schienen mir irrelevant und doch beginnt der Roman sich nach dem Lesen weiterzuentfalten. Plötzlich scheinen aber gewisse Kapitel einem mehr Informationen zu geben, als zum vorherigen Zeitpunkt und man setzt sich alles, wie bei einem Puzzlestück zusammen. Was den einen aber vielleicht deprimieren, nicht zufriedenstellen könnte, ist die Tatsache, dass man nie eine wirkliche Auflösung zu bekommen scheint. Es gibt vieles, das nie gänzlich beantwortet wird und so bleibt der Leser irgendwie gefangen, in einem Zustand, der einem sagt, man könnte mit seiner Annahme genau richtig oder daneben legen. Vertraut man auf das, was der Text explizit verrät oder liest man lieber zwischen den Zeilen und sucht nach einer anderen Wahrheit?

 

INSGESAMT: Investiert man die nötige Zeit und Geduld in den Roman, entfaltet er sich zu einem kleinen Meisterwerk. Es gibt sehr vieles, das zwischen den Zeilen verborgen liegt oder liegen könnte und zieht den Leser / die Leserin in einen Strudel der Vergangenheit, der auch Böses offenbart. Eine Geschichte die zwischen Vergeltung und Vergebung schwankt und sich durch viele Perspektiven- und Zeitwechsel auszeichnet. Zwar verspürt man zwischendurch ein Gefühl der Anstrengung, was aber letztlich mehr als passend zum Inhalt des Romans erscheint, denn dadurch spürt man die Last, die auf allen Figuren zu liegen scheint.