Rezension

Diese Rezension enthält Spoiler. Klicken, um alle Spoiler auf dieser Seite lesbar zu schalten.

Eine Geschichte mit Tiefgang

Wir sehen uns unter den Linden - Charlotte Roth

Wir sehen uns unter den Linden
von Charlotte Roth

Bewertet mit 4 Sternen

Liebesgeschichte und Familientragödie in Berlin im 20. Jahrhundert

Charlotte Roth hat mit ihrem neuesten Buch "Wir sehen uns unter den Linden" (erschienen als Taschenbuch 2019 im Knaur Verlag) zum einen eine Liebesgeschichte, zum anderen aber eine Familientragödie geschrieben, die sich über mehrere Jahrzehnte hinweg spannt.

Schauplatz des Geschehens ist Berlin zum Zeitpunkt der Weimarer Republik, der NS-Herrschaft und des geteilten Berlins nach dem 2. Weltkrieg bis zum Mauerbau.

Ilo, eine erfolgreiche und lebenslustige Sängerin in der Weimarer Republik, lernt den bodenständigen und vom Sozialismus überzeugten Volker kennen und lieben. Ihrer gemeinsamen Tochter Susanne bringt Volker den Sozialismus und die Liebe zu einem besseren Staat nahe. Er wird von den Nazis vor den Augen seiner Familie erschossen und Susanne ist mehr denn je davon überzeugt, sein Erbe - den Glauben an eine bessere Welt - fortzuführen. Das bringt sie in ständige Konflikte mit ihrer neuen Liebe, dem Koch Kelmi aus dem Westen. Sie glaubt noch so sehr an einen guten und sozialistischen Staat, der jedem Menschen eine bessere Welt bietet, dass sie nicht erkennt, wie sehr sich ihre eigene Welt immer mehr ins Gegenteil zu verwandeln scheint. Bis zu dem Tag, an dem die Mauer gebaut wird und Ost und West für lange Zeit erbarmungslos trennt, will sie der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen. Obwohl die Liebe zu Kelmi stark ist, scheint der Glaube an den Sozialismus und das gedankliche Erbe ihres ermordeten Vater größer zu sein.

"Wir sehen uns unter den Linden" ist eine Geschichte, die aus mehreren Perspektiven und über mehrere Jahrzehnte hinweg erzählt wird. Auch wenn der Perspektivwechsel in den einzelnen Erzählungen durchweg einem roten Faden folgt, so wirken meines Erachtens manche Charaktere zu flach und hätten noch mehr entwickelt werden können. So zum Beispiel Eugen, dessen Stasizugehörigkeit nur kurz beschrieben wird; nie wird wirklich klar, ob die anderen aus der Familie davon wissen. Auch Ilo wird nach dem Tod ihres Mannes nur noch von außen dargestellt, als eine Person, die sich gehen lässt und nicht mehr wirklich am Leben teilnimmt. Und Susanne wirkt in ihrem Kampf um den besseren Staat und für den Sozialismus allzu verbissen und fast schon unsympathisch. Immerhin möchte ihr der Westler Kelmi ein besseres Leben bieten, das sie aber nicht annehmen will, nicht einmal für ihre gemeinsame Tochter Birgit. Möglicherweise liegt dieser Verlust an Sympathie für die Hauptperson aber auch daran, dass wir heute mit einem ganz anderen Wissen und aus einem anderen Blickwinkel lesen.

Insgesamt haben mir die historische Darstellung, besonders der ehemaligen DDR, die Charaktere an sich und die Geschichte dennoch gut gefallen. Das Buch lädt auch nach dem letzten Satz noch zum Nachdenken an, wohl auch immer mit dem Gedanken, wie hätten wir an Susannes Stelle gehandelt?