Rezension

Eine grandiose Fortsetzung

Fräulein Gold. Scheunenkinder - Anne Stern

Fräulein Gold. Scheunenkinder
von Anne Stern

Poetisch, spannend, eine grandiose Fortsetzung! Hulda muss sich erstmalig mit ihrer Herkunft auseinandersetzen und damit, wie sie ihre Zukunft gestalten will. Anne Stern versteht es meisterliche, die damalige Zeit lebendig werden zu lassen, die Nöte und Sorgen ihrer Protagonisten eindringlich zu schildern.

„Ich weiß nicht, wovon sie sprechen. Hier gab es nie einen Jungen …“ (S. 153) Hebamme Hulda Gold ist entsetzt, vor zwei Tagen hat sie im Scheunenviertel einem gesunden Jungen auf die Welt geholfen und als sie jetzt nach ihm sehen will, ist er verschwunden und seine Mutter sieht verzweifelt aus, widerspricht ihrer Schwiegermutter aber nicht. „Angst ist der Stoff, aus dem die ganze Familie Rothmann gemacht ist.“ (S. 149) Hulda hat sofort den Rabbi in Verdacht, der das Kind als erster in der Welt willkommen geheißen hat – er hatte etwas Kaltes an sich. Sie hört sich in der Nachbarschaft um, kommt aber nicht weiter. Auch ihr Freund Karl, der Kriminalkommissar, hat keine Zeit sie zu unterstützen. Er jagt nach einem grausigen Fund gerade eine Bande Kinderhändler.

 

„Scheunenkinder“ ist der zweite Band mit Fräulein Gold und obwohl er weniger Krimi ist als der erste, hat er mich von Anfang bis Ende gefesselt. Autorin Anne Stern versteht es meisterliche, die damalige Zeit lebendig werden zu lassen, die Nöte und Sorgen ihrer Protagonisten eindringlich zu schildern. Und davon haben sie 1923 viele. Die Welt taumelt dem Abgrund entgegen, ein Ei kostet plötzlich Billionen, das Geld ist jeden Tag weniger wert und dann gibt es gar keins mehr, bis endlich die Rentenmark kommt. Die Lage in Berlin wird gerade für Juden immer gefährlicher, die Hyperinflation reizt die Menschen, sie suchen die Schuldigen für das Dilemma – die „Goldjuden“. Der Sturm auf das Scheunenviertel beginnt und Hulda ist mittendrin.

 

Hulda muss sich erstmalig mit ihrer Herkunft auseinandersetzen. Sie ist durch ihre Geburt Jüdin, aber die Religion wurde schon in ihrem Elternhaus nicht praktiziert. „Und sie, Hulda, war eine Weltenwanderin, stets dazwischen, niemals mittendrin.“ (S. 74) Zudem stößt sie beruflich immer öfter an ihre Grenzen, beneidet die Ärzte und Hebammen in den Kliniken, die besser ausgerüstet sind und mehr dürfen als sie. Aber gibt sie nicht auf und legt sich weiterhin mit dem zuständigen Frauenarzt des Viertels an.

Auch die Situation mit Karl ist noch ungeklärt. Sie sind irgendwie ein Paar und wollen sich doch nicht binden. „Karl war kein Fels in der Brandung und kein Mann zum Heiraten.“ (S. 68) Hulda hängt an ihrer Freiheit und er hat das Gefühl, ihrer nicht Wert zu sein. „Karl fühlte sich wie ein amputierter Mensch. Äußerlich besaß er alle Gliedmaßen, aber man hatte ihm stattdessen etwas aus seinem Innersten entfernt, hatte ihm die Herzensbindung zu seiner Mutter, ja zu jedem menschlichen Wesen abgeschnitten, und nichts konnte diesen Schnitt je wieder flicken.“ (S. 168) Er flüchtet sich in Depressionen und Alkohol, ohne den er inzwischen kaum noch einen Tag übersteht. Doch trotz dieser Fehler ist er ein liebenswerter Mensch und ich hoffe weiterhin, dass aus ihm und Hulda noch ein richtiges Paar wird.

Das hoffen auch Huldas Wirtin, Frau Wunderlich, und Kioskbesitzer Bert, der ihr ein väterlicher Freund geworden ist. Ich mag Frau Wunderlich immer mehr, diese polternde Frau mit dem Herz am rechten Fleck, die sich wirklich um sie und die aktuelle Situation sorgt. „Aber am Ende sind wir doch alle Menschen, oder?“ (S. 130) Genau wie Bert, dessen Bildung Hulda (und mich) immer wieder überrascht. Auch sein Geheimnis wird langsam gelüftet, auch für ihn wird es immer gefährlicher.

 

Anne Stern hat sich mit dem Scheunenviertel einen Schmelztiegel der Kulturen und Konfessionen als Handlungsort ausgesucht. Die Bewohner gehören zum Bodensatz der Gesellschaft, zu den Ärmsten der Armen. Tamar, die junge Mutter, hat es besonders schlimm getroffen. Sie lebt als Christin unter Juden, wird von der Schwiegermutter nicht akzeptiert, weil sie nicht konvertieren will. Und aus Liebe zu ihrem Mann nimmt sie alles hin. „Ich kann es mir nicht leisten, mich nach Freiheit zu sehnen. Ich darf nicht zu sehr an meinem Halsband zerren, sonst erwürgt es mich.“ (S. 158)

 

Anne Sterns sehr poetischer Schreibstil hat mich wieder begeistert. „Die Stadt verschluckte das Licht, würgte es hinunter zwischen den hohen Mauern der rußgeschwärzten Fassaden und ließ es nicht mehr frei.“ (S. 24). Ich bin immer noch hin und weg. 5 Sterne und meine Leseempfehlung!