Rezension

Eine Kindheit

Die wir liebten - Willi Achten

Die wir liebten
von Willi Achten

Bewertet mit 4 Sternen

Manchmal kann man Strömungen in der Literatur erkennen, Themen, die mehr oder weniger aufploppen, auf die man plötzlich immer wieder trifft.
Derzeit scheint die Kindheit und Jugend in den Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts das Thema der Wahl zu sein. Gerade erst waren gleich zwei Romane auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis, in denen es genau darum geht: Ulrich Woelks "Der Sommer meiner Mutter" und "Wo wir waren" von Norbert Zähringer. "Wo wir waren", "Wen wir liebten", hier ähneln sich nicht nur die Titel, es gibt weitere Überschneidungen. Die wichtigste ist die Aufarbeitung der Zustände in deutschen Nachkriegskinderheimen, in denen ehemalige Lageraufseher als Betreuer eingesetzt wurden.
Ich bin 1974 geboren. Damals kamen Jugendamtsmitarbeiterin noch unangemeldet zu jungen Müttern nach Hause, um die dortigen Zustände zu überprüfen. Engstirnigkeit, Übergriffigkeit und der Wunsch nach Zucht und Ordnung saßen noch in vielen Köpfen fest und gegen Behördenwillkür war man nahezu machtlos. Meine Mutter berichtete mir von einem solchen Besuch samt Anweisungen, was mit einem Baby zu tun oder zu lassen sei. Dick eingepackt an die frische Luft stellen war nicht vorgesehen. Ersticken im eigenen Mief dagegen schon.
Willi Achten erzählt davon, wie eine Familie langsam zerbricht, wie lang geschürter Rachedurst auf dem Rücken unschuldiger Kinder ausgetragen wird und wie schnell der Stab zerbrochen wird, wenn man den Konventionen nicht genügen kann..
Edgar und Roman leben in einer normalen Mittelklassefamilie in der Provinz. Ihr Vater ist selbständiger Bäckermeister, die Mutter hat eine Lottoannahmestelle. Die Oma und eine geistig verwirrte Großtante leben auch mit in der Familie. Auch, wenn beide Elternteile arbeiten, kümmert sich die Oma, Edgars und Romans Kindheit ist eine liebevolle.
Bis der Vater sich trennt und die Mutter nach und nach dem Alkohol verfällt. Edgar und Roman haben mehr Freiheiten als gern gesehen wird und anstatt ihnen aufgrund ihrer Situation Verständnis entgegen zu bringen, werden sie gegen den Willen der Eltern in ein Heim gebracht. Ein Heim, das sich in nur sehr wenigen Punkten von den Gefangenenlagern brauner Vorzeiten unterscheidet.
Dieser Roman ist keine leichte Kost. Aus heutiger Sicht erscheint der Ablauf geradezu mittelalterlich. Geprügelte und gefolterte Kinder, mißbraucht für Pharmaexperimente auf den Spuren Mengeles. Das mag man sich für die vermeintlich bunten und fröhlichen Siebziger kaum vorstellen. Tatsächlich wurden bis in die Siebziger Jahre hinein ca 800 000 Kinder Opfer dieser Lagerhaltung. Prügelstrafen, Isolierzellen, Zwangsarbeit, schwarze Pädagogik nennt man diese Vorgehensweise. Und unzählige Kinderheime in Deutschland mussten sich ihrer Vergangenheit stellen. Unglaublich eigentlich, dass kaum einer davon weiß, dass es keinen bundesweiten Aufschrei gab, als diese Zahlen bekannt wurden.
Achten hat diesen Kindern Stimmen gegeben und ein Leben. Edgar und Roman stehen exemplarisch für all jene, denen das Grauen die Stimme genommen hat, die bis heute nicht darüber sprechen können, was in ihrer Jugend geschah.