Rezension

Eine klassische Verfolgungsjagd - spannend und psychologisch interessant als Kriminalthriller präsentiert

Das fremde Mädchen -

Das fremde Mädchen
von Joy Ellis

Bewertet mit 5 Sternen

5 Sterne für gekonnt erzählte, spannende Unterhaltung, die geschickt auf leise Töne setzt, um im Leser ein emotionales Echo zu erzeugen.

>>>INHALT

Sam, Kriminalbeamter, reagiert mehr als verblüfft, als ihm seine Exfrau die Nachricht zukommen lässt, dass ihre gemeinsame Tochter Zoe ihn endlich wieder besuchen kommen darf: Das etwa gleichaltrige Kind, das Sam mit einem freudigen: "Daddy!", auf dem Flughafen begrüßt, kennt er allerdings nicht. 

Seine (stets außer Reichweite umher irrlichternde) Ex, von der man bis zum Schluss der Novelle nicht weiß, ob sie Gutes oder Böses im Schilde führt, teilt ihm lediglich knapp mit, das Mädchen brauche seinen Schutz und befinde sich in Schwierigkeiten.

Als Sams Bruder Mike, ein IT-Spezialist, beginnt, nach deren Ursache zu suchen, zündet erst jemand sein Auto an, anschließend wird sein Haus in die Luft gejagt.  Die Brüder ziehen sich daraufhin gemeinsam mit dem Kind zu einer abgelegenen Hütte zurück, um abzutauchen - aber schon bald werden sie auch dort von Verfolgern aufgespürt ...

>>>WAS DIESEN THRILLER FÜR MICH AUSZEICHNET

Warum wir ein Buch gern lesen, das ist eine sehr persönliche Entscheidung. Bei mir war es bei der Lektüre dieses Thrillers so, dass ich sehr schnell große Sympathie für das Kind entwickelt habe, das da, von finsteren Mächten manipuliert und gejagt, in Sams Obhut landet: Kinder in Gefahr muss man einfach beschützen. Deren Schicksal "mitzuerleben" - und sei es nur fiktiv - erzeugt bei mir Mitgefühl. Aber darüber hinaus sind auch die anderen Figuren, die einem in diesem Buch begegnen, Typen, die eigentlich heutzutage viel zu selten geworden sind. Es handelt sich da um engagierte und lebenskluge Menschen, die bisweilen auf Vorschriften pfeifen und ihre Karriere riskieren, um das Richtige zu tun, eben das, was einen ehrenbaren, aufrichtigen, anständigen Menschen auszeichnet. Da dergleichen im Leben 1.0 immer seltener wird, freut es mich einfach, wenn ich solchen Sympathieträgern wenigstens auf Buchseiten begegnen darf.

Die Story selbst stellt eine klassische manhunt dar, eine Verfolgungsjagd. Wir  als Leser wissen nicht genau, wer oder was die beiden Brüder Sam und Mike sowie ihren Schützling Sophie bedroht. Es ist tatsächlich wie im richtigen Leben, wo einem selten die Strippenzieher hinter den Kulissen und noch viel weniger deren Absichten bekannt sind, deren Tun jedoch Einfluss auf das eigene Leben nehmen kann.

Einen Comedian habe ich es einmal zutiefst vorwurfsvoll so formulieren hören: ‚... was die mit uns machen?!’

Wer sind die?  Was wollen die? Was passiert mit mir dadurch, dass die geradezu allmächtig im Hintergrund agieren und welchen Absichten bin ich einigermaßen überraschend und damit hilflos ausgesetzt?

Genau das ist mir, Bürgerin einer Demokratie, von der eigenen Regierung samt ihren Organen immer wieder unangenehm überrascht, zutiefst vertraut: dieses Gefühl des hilflosen Ausgesetztseins.

Die Autorin von "Das fremde Mädchen", Joy Ellis, nimmt uns als Leser in genau solch eine Situation hinein: unsicher in jeder Hinsicht - und damit verunsichernd. Das erzeugt Empathie und natürlich Spannung.

Um in Bezug auf die Handlung eines Buches tatsächlich mitfühlen zu können, benötige ich Anknüpfungspunkte. Die serviert Ellis, indem sie mich als Leserin die Ungewissheiten ihrer Figuren miterleben / miterleiden lässt, Unwägbarkeiten, die ich prinzipiell nur allzu gut kenne, ohne je bei der Polizei gearbeitet zu haben oder von Bösewichten gejagt worden zu sein. Clever gelöst. Lewis schafft es so spielerisch leicht, ein mitreißendes Buch zu verfassen.

Die Schilderung ihrer Charaktere ist präzise, die der Situationen ebenso. Im Englischen wird vieles deutlich knapper ausgedrückt als das in der deutschen Übersetzung möglich ist. Insgesamt entsteht so ein vergleichsweise nüchterner Stil, der sich immer wieder auf das Wesentliche konzentriert.

Abgelenkt und auf falsche Fährten gelockt beim persönlichen Spekulieren darüber, was da eigentlich vor sich geht, wurde ich immer wieder dadurch, dass in der Handlung einmal diese Figur, einmal jene Situation detailliert geschildert wurden. Ständig bleibe ich so geistig auf dem Sprung und frage mich: Wichtig oder nicht? Das erzeugt Spannung bzw. Anspannung.

Mir gefällt diese Art der Erzählweise, ich schätze die Präzision der Darstellung. Und im Prinzip gefällt es mir auch, wie im Leben 1.0 ständig spekulieren zu müssen, was ich als relevant und was ich als irrelevant einstufen muss. Dieser Prozess beteiligt mich - zwar nur mittelbar, aber immerhin bin ich beteiligt - am Geschehen.  Hier entsteht Spannung, ohne dass großartige Gewalttaten oder  Zerstörungen nötig sind, um die Story schwungvoll vorzutragen. Ich mag das; Bücher, aus denen quasi das Blut herausläuft, sind mir einigermaßen zuwider. Die "leisen Töne" in Lewis’ Novelle gefallen mir deutlich besser als eine knallige Abfolge von Explosionen.

>>>FAZIT

Ein unterhaltsamer Thriller mit sympathischen Handlungsträgern, der geradezu subtil viel Spannung verbreitet, eine zentrale Frage tatsächlich erst ganz zum Schluss klärt und damit von der ersten bis zur letzten Seite rasant mitnimmt. Daher gerne 5 Sterne.