Rezension

Eine kluge Graphic Novel über zwei Frauen auf der Suche nach ihrer Identität

Das Erbe - Rutu Modan

Das Erbe
von Rutu Modan

Bewertet mit 4 Sternen

Vielreisende kennen sicher die zeitaufwändigen Kontrollen und strikten Reglements vor allem beim Handgepäck wenn man heutzutage an einem Flughafen einchecken möchte, um ins Ausland zu fliegen.
Auch am Ben-Gurion-Airport in der Nähe von Tel Aviv gelten strenge Sicherheitsvorschriften. So ist es Reisenden nicht gestattet, Getränkeflaschen im Handgepäck mitzuführen. Als Regina zusammen mit ihrer Enkelin Mika eine Reise nach Warschau antreten möchte, wird sie von einem Zollbeamten an der Sicherheitsschleuse gebeten, eine Wasserflasche abzugeben. Für Regina ist das völlig unverständlich, Wasser sei schließlich lebenswichtig und kein Sprengstoff. Vergeblich versucht sie zu verhandeln und trinkt schließlich die komplette Flasche vor den Augen des verblüfften Beamten leer, während hinter ihr die Warteschlange länger und länger wird.

In wenigen Panels schafft Rutu Modan eine gelungene Einleitung, in der uns die beiden Protagonistinnen vorgestellt werden.
Die beiden Frauen reisen für 7 Tage nach Polen, um sich auf die Suche nach einem Haus zu machen, welches Reginas Familie vor dem Zweiten Weltkrieg aufgeben musste, um den Nazis zu entgehen. Da Polen aber nach dem Krieg kommunistisch regiert und jegliches Eigentum verstaatlicht wurde, konnte die Familie jahrzehntelang nicht an ihr Eigentum kommen. In Warschau angekommen, erweist sich der Grund der Reise als eine verzwickte Angelegenheit mit vielen Fragezeichen, denn schnell ahnt Mika, dass es Regina nicht allein um das Vermächtnis geht. So teilen sie sich in einem Hotel zwar ein Zimmer, stellen aber getrennte Nachforschungen an. Während Regina sich mit ihrer Vergangenheit beschäftigt und den Mann sucht, den sie einst geliebt hat, geht Mika Spuren nach und findet heraus, dass das Erbe nicht nur eng mit der Geschichte ihrer Großmutter und ihrer Familie verknüpft ist, sondern auch mit der Stadthistorie Warschaus und dem Schicksal ihrer Einwohner.

Mit klarer Linie, die an den frankobelgischen Stil erinnert, zeichnet Rutu Modan eine Story, welche deutliche biographische Züge trägt.
Ihre Zeichnungen wurden von Künstlern wie Hergé oder auch Winsor McCay beeinflusst. Erinnert wurde ich beim Lesen allerdings auch an Eric Heuvel, der mit Die Entdeckung ebenfalls eine Graphic Novel gezeichnet hat, in der sich ein Enkel mit der verschwiegenen Vergangenheit der Großeltern beschäftigt.

Das Erbe wird von Rutu Modan sehr authentisch und überzeugend geschildert, da sie selbst nach Warschau gereist ist und vor Ort Eindrücke gesammelt hat. Diese Erfahrungen und Beobachtungen fließen in ihre Graphic Novel ein und mischen eine lockere Erzählweise mit Tiefgang.
Die detailreichen Bilder gehen hierbei eine gelungene Symbiose mit der Handlung ein, die Figuren und aufeinander folgenden Panels wirken äußerst lebendig. Ein passendes Beispiel ist die Schulklasse im Flugzeug nach Warschau:
Wie auf einem Wimmelbild sind nicht nur zahlreiche Personen zu erkennen, sondern auch Interaktionen. So erzählt Rutu Modan selbst in der Hintergrundgestaltung kleine Geschichten, die ein stimmiges Gesamtkunstwerk mit dem Haupterzählstrang bilden. Mal heiter, dann wieder traurig, öfter mal mit einem Augenzwinkern, nie aber einseitig. Die Graphic Novel behandelt die Suche nach der eigenen Identität und Herkunft gleichermaßen wie allgegenwärtige Vorurteile.

Sehr einfallsreich hat Rutu Modan übrigens das Problem der Sprachenvielfalt gelöst: Dialoge in „Das Erbe“ werden je nach Personenkonstellation in Hebräisch, Polnisch und Englisch geführt. Der gesamte Text wurde von Gundula Schiffer ins Deutsche übersetzt, allerdings können die verschiedenen Sprachen durch die Schriftart nach wie vor unterschieden werden: Hebräisch ist in GROSSBUCHSTABEN, Polnisch in kursiver Schrift und Englisch in Groß- und Kleinschreibung dargestellt. Sogar Sprachbarrieren werden optisch gezeigt:
Mika spricht zum Beispiel kein Polnisch. Unterhalten sich aber in ihrer Gegenwart Personen auf Polnisch, findet man als Leser in den Sprechblasen nur unleserliches Gekrakel. Manche Passagen kommen dagegen ganz ohne Text aus und wirken wie ein Storyboard eines Films, alle Bildfolgen sind fließend, es gibt keine krassen Schnitte oder Sprünge.

Als ehemaliger Schüler der Selbstversteidigung Krav Maga musste ich übrigens bei der kurzen Szene, in der sich Mika gegen einen mit einer Karotte bewaffneten „Angreifer“ verteidigt, etwas schmunzeln und freute mich über die korrekte Darstellung: Eine Bildfolge wie aus einem Lehrbuch. Es ist die Liebe zu solchen Details und die gelungene Charakterisierung der gezeigten Personen, die Das Erbe für mich zu etwas ganz Besonderem machten.

Da mir zugegebenermaßen bislang keine Werke von Rutu Modan bekannt waren, wanderte ihr Vorgängerwerk Exit Wounds nun direkt auf meine Wunschliste. Ich hoffe, wir werden noch viel von ihr hören. Und selbstverständlich auch lesen und sehen