Rezension

Eine liebenswerte Menschenstudie mit Herz

Lied der Weite - Kent Haruf

Lied der Weite
von Kent Haruf

Bewertet mit 4 Sternen

Von Menschen, Möglichkeiten und Neuanfängen

„Schauen Sie sich doch an. Eines Tages werden Sie sterben, ohne jemals im Leben genug Sorgen gehabt zu haben. Jedenfalls nicht die richtige Sorte. Das ist ihre Chance.“

 

Inhalt

 

Für Victoria, die mit 17 schwanger ist und von ihrer Mutter nicht mehr unterstützt wird, stellt sich die Frage, wohin sie soll, in ihrem Zustand und dann bald noch mit einem Baby. Ihre Vertrauenslehrerin Maggie hat da eine passable Idee: Am Stadtrand von Holt wohnen zwei ältere Herren, beide Farmer und ohne Familie. Sie ist der Ansicht, dass die beiden Männer und das junge Mädchen eine gelungene Zweckgemeinschaft werden könnten und konfrontiert die Herren, mit ihrem Vorschlag. Tatsächlich sind diese bereit, sich darauf einzulassen und so kann das Leben weitergehen. Doch in Holt gibt es noch mehr Baustellen. Männer, die von Frauen verlassen wurden, Kinder, die ohne Mutter aufwachsen, Schüler die andere ausbeuten und solche, die anderen helfen. Alte und Junge, Starke und Schwache, Schlaue und Dumme – das Kleinstadtleben mit all seinen Vorteilen aber auch den unvermeidlichen Nachteilen, geprägt von Menschen jeglicher Art ist das Herzstück dieses Romans und zeigt, wie es aussehen könnte … das Leben.

 

Meinung

 

Der im Jahre 2014 verstorbene amerikanische Autor Kent Haruf hat die idyllische Kleinstadt Holt eigens für seine Geschichten erdacht und nimmt den Leser nun mit auf eine Reise ins Zentrum seines kleinen Universums. Dort, wo die Landschaft noch urig ist, die Menschen bodenständig leben und ihrer geregelten Arbeit nachgehen, dort wo der Ackerbau und die Viehzucht als Wirtschaftszweige dominieren, treffen wir Menschen aller Art, deren Charakterstärken und Ambitionen ebenso zu Tage treten wie ihre Schwächen und Unzulänglichkeiten. Dieser Roman ist eine sehr liebevoll gezeichnete, unaufgeregte Menschenstudie über das Zusammenleben mehrerer Bewohner dieser Kleinstadt und gleichermaßen die Erzählmöglichkeit, wie es sein kann, wenn sich nicht jeder selbst am nächsten steht, wenn fast Fremde bereit sind, nur durch den ein oder anderen Kompromiss einne Neuanfang zu wagen, um den Gemeinschaftssinn zu stärken.

 

Zunächst einmal besticht der Roman durch einen humorvollen, ambitionierten Schreibstil, der ebenso Raum lässt für Gefühle wie Einsamkeit, Traurigkeit und Zuversicht als auch für ganz alltägliche, wenn auch leicht abschreckende Abläufe im ländlichen Tagesablauf. Mensch und Tier bildet eine Einheit, ist voneinander abhängig und wirkt aufeinander ein. Das Sterben, die Geburt, Krankheiten und Sorgen, die erste Liebe, der erste Verrat, das schlechte Gewissen, die elementare Wut – ganz egal was es ist, der Leser kann es nachvollziehen, selbst wenn der Autor aus einer übergeordneten Erzählperspektive heraus agiert und ersichtlich wird, das viele Menschen lieber schweigen als ihren Wünschen Ausdruck zu verleihen.

 

Mein persönlicher Kritikpunkt bezieht sich im Wesentlichen auf recht lose Erzählstränge, die immer wieder wechseln und dann doch recht oberflächlich aus der Außenperspektive schildern, was den Menschen widerfährt. Inhaltlich konzentriert sich die Geschichte auf mehrere Aspekte und Menschen, die mir durch den häufigen Wechsel nicht so recht ans Herz wachsen konnten. Am meisten gestört hat mich dabei die fehlende Reflexion über die Gefühlsebene. Der Leser weiß genau, wie viel Mut oder Überwindung hinter einer entsprechenden Verhaltensweise steckt, aber er entdeckt das nur über die Handlung, nicht über die inhaltliche Auseinandersetzung. Bereits nach der Hälfte des Buches war ich mir sicher, dass mich das Geschehen in einer verfilmten Variante noch mehr angesprochen hätte, da dort auch zwischenmenschliche Töne, wie Körpersprache oder Stimmvariationen wirken können.

 

Fazit

 

Ich vergebe 4 Lesesterne für diesen stillen, aber eindringlichen Roman, der Menschlichkeit und Aufopferungsbereitschaft fokussiert. Ich mag Bücher, in denen man eine echte Aussage, eine Botschaft findet und die man mit einem Lächeln zuklappen kann und all das bietet dieses Buch. Es zeigt, auf einfühlsame Art und Weise, wie Nähe entstehen kann, wenn man bereit ist, sie zuzulassen. Der große Vorteil des Buches ist seine leichte Hand, mit der es geschrieben scheint und deshalb auch so wirkt -  gleichermaßen interessant wie verständlich, ebenso erschütternd wie aufrüttelnd und doch in sich geschlossen und mit einem hoffnungsfrohen Ende. Ich empfehle den Roman all jenen, die gerne Erzählungen hören, die viele Wahrheiten und lebensnahe Momente aufgreifen und dabei auch noch unterhalten.