Rezension

Eine märchenhafte Erzählung über eine Familie im Mexiko der 1920er

Das Flüstern der Bienen -

Das Flüstern der Bienen
von Sofia Segovia

Bewertet mit 3.5 Sternen

Eine Mischung aus Zeitgeschichte und verträumter Fiktion, die vom Aufwachsen, Fremdsein und dem Umgang mit Umbrüchen erzählt.

Eines Morgens findet die alte Amme Nana Reja ein Baby, das nach Meinung des Arztes durch eine Gesichtsfehlbildung gar nicht lebensfähig wäre. Doch der kleine Junge, der inmitten eines Bienenschwarms gefunden wird, lebt und wächst fortan mit seinem Bienenschwarm bei der reichen, landbesitzenden Familie Morales auf. Die Handlung spielt in der mexikanischen Stadt Linares, in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Es ist die Zeit umfassender Umstürze, Enteignungen, die Zeit der Landreform und zudem findet die Spanische Grippe ihren Weg ins Dorf.

Die Autorin entwirft rund um den Bienenjunge Simonopio, der zwar nicht sprechen kann, dafür aber mit den Bienen kommuniziert und weiß, wann es regnen wird und wann Gefahr droht, eine Familie, die sich in den politischen Wirren als Großgrundbesitzer neu orientieren muss.

Erzählt wird die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven, insbesondere aber durch Francisco, der als jüngstes Kind der Familie von Simonopio großgezogen wurde und sich nun als alter Mann an diese Kindheit erinnert.

Die Vermischung realistischer und phantastischer Elemente hat mich etwas an Murakami erinnert, denn es ist gerade so phantastisch gehalten, dass man den Bienenjungen noch für zumindest teilweise real halten kann. Die Grenzen zwischen Realität, Erinnerung und Magie verschwimmen an vielen Stellen. Dabei ist das Buch auch eine Liebeserklärung an die Natur. Es ist ein schöner Roman, der Sehnsucht nach Sommer macht und die Leser*innen auf eine Reise in eine den meisten von uns wohl eher weniger bekannte Gegend schickt. Die kurzen Kapitel, in denen die gleiche Situation aus verschiedenen Perspektiven nacherlebt werden, passen zu der Art des Buchs, das die Ereignisse im Leben der Familie Morales schlaglichtartig beleuchtet.

Ich würde das Buch nicht unbedingt lesen, um ein tieferes Verständnis für die mexikanische Gesellschaft zu entwickeln, denn die Autorin betont selbst, dass sie einige historische Ereignisse verschoben hat und natürlich wird mit dem Fokus auf die Großgrundbesitzer Morales auch nur eine Seite der Auseinandersetzungen zu dieser Zeit betont. Man erhält durchaus einen Einblick in das Leben in einem mexikanischen Dörfchen vor 100 Jahren, denn die Autorin hat definitiv gründlich recherchiert. Gerade wegen der Vermischung von Phantastik und Realismus sollte man das aber nicht alles für bare Münze nehmen - so viel sagt sie aber auch selbst und das ist auch nicht das Ziel des Buchs.

Der Roman schärft den Blick für die Notwendigkeit, die Natur zu verstehen und wertzuschätzen, für familiäre Dynamiken und für Ausgrenzung und will zeigen, dass Menschen, die aufgrund ihrer Behinderungen besondere Diskriminierung erfahren, eine nicht weniger wertvolle Erfahrungswelt haben und die Bewertung, welche Art der Lebensführung die "bessere" ist, nicht so leicht ist. Kritisieren kann man aber, dass Simonopio sehr animalisch dargestellt wird - das kann man natürlich auf seine enge Bindung zu den Bienen zurückführen, aber es spielt auch in die häufige Darstellung behinderter Menschen als nicht ganz menschlich hinein. Simonopio bleibt außerdem teilweise Projektionsfläche und ist vor allem da, um anderen Menschen zu helfen, was man durchaus kritisch betrachten kann (Stichwort Inspiration porn). Der alte Francisco muss selbst gestehen, dass er Simonopio als Kind vor allem egoistisch als für ihn und seine Bedürfnisse verantwortlich wahrgenommen hat.

Die Bewertung des Romans hängt deshalb, glaube ich, davon ab was man erwartet. Ich habe das Buch gern gelesen und kann es definitiv denen empfehlen, die nach einer kleinen Flucht aus dem Alltag suchen. Man sollte aber nicht zu viel umfassende politische Reflexion oder tiefgehende Botschaft erwarten und ein kritisches Auge für manche Charaktere haben.