Rezension

Eine meisterhafte Fortsetzung

Das Land der verlorenen Träume - Caragh O'Brien

Das Land der verlorenen Träume
von Caragh M. O'Brien

*Worum geht's?*
Gaia ist das Unmögliche gelungen: Sie ist aus der Enklave entkommen! Nach allem, was geschehen ist, kann sie nicht fassen, wo sie nun gelandet ist. Mit nichts bei sich, außer ihrer zerlumpten Kleidung und ihrer neugeborenen Schwester Maya, irrt sie durch das wüste Ödland. Beiden droht der Tod - doch dann werden sie von einem Fremden gerettet, der sie nach Sylum bringt, einer geregelten Ortschaft. Gaia glaubt, in Sicherheit zu sein, denn in dem von Frauen geführten Ort gibt es genügend Essen, fließendes Wasser und eine Beschäftigung für jeden. Bloß an weiblichem Nachwuchs fehlt es, denn seltsamerweise gebären die Frauen fast ausschließlich Jungen. Die Matrarch sorgt mit strengen Regeln für Ordnung im aussterbenden Sylum und scheut vor nichts zurück, um diese aufrecht zu erhalten. Um Gaia in die Gemeinschaft zu zwingen, nimmt sie ihr Maya weg und raubt ihre Unabhängigkeit, sperrt sie sogar ein. Schon bald beugt sich Gaia dem Willen der Matrarch und arbeitet nach ihren Wünschen als Hebamme. Dabei kommt sie dem Geheimnis auf die Spur, dass die Geburt von Mädchen verhindert...

*Kaufgrund:*
Von Caragh O'Briens Erstling "Die Stadt der verschwunden Kinder" war ich enorm begeistert. Ich habe sowieso eine Schwäche für Dystopien, aber O'Briens Trilogieauftakt gehört zu meinen absoluten Lieblingen. Sehnsüchtig habe ich auf diese Fortsetzung gewartet die ich nun endlich in den Händen halten durfte!

*Meine Meinung:*
"Das Land der verlorenen Träume", die lang ersehnte Fortsetzung der "Stadt der verschwundenen Kinder", knüpft beinahe nahtlos an das Geschehen des Vorgängers an und führt die Geschichte strikt fort. O'Brien bietet ihren Lesern zwar keine Wiederholungsphase, aber ein Rückblick ist auch nicht nötig. Durch den kompletten Orts- und Figurenwechsel des zweiten Bandes ist es nicht zwingend erforderlich, den ersten Roman gelesen zu haben. Ob mit oder ohne Vorkenntnissen, jeder wird sich schnell und leicht in "Das Land der verlorenen Träume" hinein- und zurechtfinden können. Trotzdem kann ich es nur empfehlen, erst "Die Stadt der verschwundenen Kinder" zu lesen - allein dafür, um Gaia besser verstehen zu können.

Wie es bereits beim Vorgänger der Fall war, war ich ab dem ersten Moment von diesem Roman begeistert. Der mitreißende Schreibstil der Autorin sowie die packende Einstiegsszene, die Rettung aus dem Ödland, haben mich augenblicklich wieder in Gaias Welt entführt. Meine Vorfreude, die tapfere Hebamme abermals auf einem Abenteuer begleiten zu dürfen, wurde nicht enttäuscht! Nachdem ich vom ersten Band so fasziniert gewesen war, hatte ich große Erwartungen an den zweiten Teil. Caragh O'Brien bewies mir jedoch mit jeder Seite aufs Neue, dass es für sie eine ihrer leichtesten Übungen war, meine Erwartungen zu übertrumpfen! "Das Land der verlorenen Träume" hat eine grandiose Handlung, die alles in sich vereint, was man sich nur wünschen kann: jede Menge Charme, Witz, innovative und realistische Ideen und vor allem Spannung, Spannung, Spannung! Natürlich kam auch der geheimnisvolle Rätselpart mitsamt Geheimschrift nicht zu kurz.

In dem zweiten Band der Trilogie befindet sich Gaia in Sylum, einer kleinen Ortschaft mit knapp 2000 Einwohnern. Caragh O'Brien hat mich mit ihrem Ideenreichtum, den sie in dieses Städtchen gesteckt hat, durch und durch begeistern können. Es ist, als hätte sie sich eine eigenständige zweite Dystopie ausgedacht, denn Sylum ist ganz anders als die Enklave! Diese Stadt wird von Frauen regiert, die sich als Schwesternschaft zusammengeschlossen haben und gemeinsam darüber entscheiden, wie es in Sylum zu sich geht. Männer haben kein Mitbestimmungsrecht; sie erledigen die körperliche Arbeit und überlassen das Denken den Frauen. Das Leben könnte in Sylum so angenehm sein! Es gibt fließendes Wasser, genügend Essen für jeden, durch die strengen Regeln der Matrarch - dem Oberhaupt der Schwesternschaft - keinen Ärger. Doch Sylum stirbt langsam, aber sicher aus: Obwohl alle Frauen beinahe pausenlos schwanger sind, gebären sie kaum Mädchen! Unter zehn Neugeborenen finden sich neun kleine Jungen. Aber woran liegt das? Mithilfe ihrer wenigen Freunde in Sylum und dem Vermächtnis ihrer Großmutter kommt Gaia dem Geheimnis auf die Spur - doch das ist alles andere als appetitlich! Außerdem bahnt sich in der sonst so ruhigen Stadt ein großer Aufstand an, denn die Männer fordern ihre Stimme.

Von der Untergebenen zur Rebellin und wieder zurück. Während Gaia in der "Stadt der verschwundenen Kinder" enorme Fortschritte machte und sich zu einer mutigen Widerstandskämpferin entwickelte, erleidet sie im "Land der verlorenen Träume" enorme Rückschläge. Die Umstände brechen ihr das Rückgrat. Die Matrarch hat ihr nicht nur Maya, sondern auch ihre Kraft geraubt und sie zu einem gehorsamen Mitglied Sylums gemacht. Ehe sie sich versieht, erkennt sich Gaia nicht einmal mehr selbst wieder: Ihre Ideale sind dahin, ihre Moralvorstellungen unwichtig geworden. O'Brien ist es gelungen, Gaias inneren Sturz so gefühlskalt zu beschreiben, dass es sprachlos macht. Es hat mir in der Seele weh getan, zuzusehen, wie Gaia - unsere starke Gaia aus der "Stadt der verschwundenen Kinder"! - sich und ihre eigenen Werte Stück für Stück aufgibt! Gaia mag ein Stehaufmännchen sein, aber wer so stark gebrochen wurde, der findet nur schwer zu sich selber zurück.

Leider gibt es für die meisten Charaktere aus dem Vorgänger keinen erneuten Auftritt. Besonders, was Bartlett betrifft, habe ich mir ein klärendes Wiedersehen gewünscht! O'Brien hat sie jedoch allesamt in Wharfton und in der Enklave gelassen, sodass wir nur spekulieren dürfen, wie es um ihr Schicksal steht. Dafür liefert uns die Autorin eine Vielzahl an neuen interessanten Figuren, die man gerne als Wiedergutmachung akzeptiert. Diesmal nimmt sich Caragh O'Brien auch viel mehr Zeit für ihre Nebencharaktere. Im Gegensatz zum Vorgänger, indem sie eher blass und oberflächlich blieben, erhält man in "Das Land der verlorenen Träume" einen besseren Einblick in die Personen rund um Gaia.

In Sachen Liebe geht es in "Das Land der verlorenen Träume" sehr durcheinander zu! Dreiecksgeschichten gibt es schon zu genüge, dachte sich wohl Caragh O'Brien und entschloss sich kurzerhand dazu, Gaia auch gefühlsmäßig auf die Probe zu stellen. Die angeschlagene Protagonistin hat ganze 3 Verehrer, die um ihre Gunst buhlen. O'Brien merkt in einer Szene selbst an, wie absurd sie diese "Vierecksgeschichte" findet - doch zu meiner eigenen Überraschung musste ich feststellen, dass es funktioniert hat! Gaia kann die Unterstützung ihrer drei Helden gut gebrauchen und jeder trägt seinen Teil dazu bei, dass sie wieder zu sich selbst finden kann. Obwohl sie hin- und hergerissen ist, verhält sie sich - zum Glück! - nicht wie ein hormongesteuerter Teenager. Sie möchte niemanden verletzen und würde es am liebsten allen recht machen. Ihre mitfühlende Art ist es, die Gaia auszeichnet und die sie von den anderen Frauen aus Sylum abhebt. Doch ihr Herz kann nur für einen schlagen...

*Cover:*
Das Cover sieht genauso aus wie das des Vorgängers - bloß spiegelverkehrt und in orange statt in blau! Auch wenn es weder einen Bezug zum Titel noch eine besondere Aussagekraft besitzt, kann man an ihm wenigstens die "Seriengemeinschaft" erkennen. Immerhin.

*Fazit:*
"Das Land der verlorenen Träume" kann seinen Vorgänger "Die Stadt der verschwundenen Kinder" in jeglicher Hinsicht noch einmal übertrumpfen! Die Charaktere sind noch authentischer, die Handlung ausgereifter und spannender und die Atmosphäre so packend, dass man nicht mehr von diesem Roman loskommt. Danke, Caragh, für diese meisterhafte Fortsetzung! Ich vergebe volle 5 Sterne.