Rezension

Eine monströse Geschichte...

Das Floß der Medusa
von Franzobel

Bewertet mit 4.5 Sternen

Im Juni 1816 lief die Medusa gemeinsam mit vier weiteren  Schiffen aus, um nach dem endgültigen Sturz Napoleons französische Soldaten, Verwaltungsbeamte und Siedler in die wiedergewonnene Kolonie Senegal zu bringen. Unzureichendes Kartenmaterial, Fehlentscheidungen und Navigationsfehler des unfähigen Kapitäns verursachten schließlich die Katastrophe: man verlor den Kontakt zu den anderen Schiffen und lief am 02. Juli auf der Arguin-Sandbank vor der westafrikanischen Küste auf Grund. Es wurde zunächst erfolglos versucht, die Medusa mit Ankerwinden wieder flottzumachen. Als schließlich der Rumpf des Schiffes brach, wurde eine dilettantische Rettungsaktion initiiert. Sechs Beiboote reichten nicht aus, um die rund 400 Passagiere und Besatzungsmitglieder aufzunehmen, weshalb der Bau eines Floßes angeordnet wurde.

Auf das Floß stiegen dann 150 Menschen - darunter eine einzelne Frau - wodurch das Floß heillos überfüllt war und sofort tief unter die Wasseroberfläche gedrückt wurde. Geplant war, dass die Beiboote das Floß an die Küste schleppen sollten, doch stattdessen wurde das Verbindungsseil von einem Offizier gekappt. 13 Tage trieben die Menschen daraufhin hilflos auf dem Meer - ohne Lebensmittel, ohne Wasser, nur mit einigen Fässern Wein. Von den 150 Schiffbrüchigen waren letztlich nur noch 15 am Leben, als ein Schiff das führungslose Floß schließlich entdeckte.

"Als man nahe genug war, sah man hohle Augen, das Gestrüpp stacheliger Bärte, ausgedörrte Lippen, trocken wie Pergamentpapier. Verbrannte Schultern, abgeschälte Haut, alles voller Wunden, Blasen (...) Skelette mit hervorstehenden Brustkörben, harfenförmigen Beckenknochen und fladenartigen, nur noch aus Hautlappen bestehenden Arschbacken. Ihr Haupthaar, starr vom Salz, glich alten Polstersesselfüllungen. Und die Augen? Düster verschleiert, wahnsinnig." (S. 9)

Wie der Schiffsarzt Jean-Baptiste Henri Savigny und der Geograph Alexandre Corréard in ihrem anschließenden Unglücksreport darlegten, konnte man auf der 13tägigen Fahrt durch grausam heiße Temperaturen nur überleben, weil man dazu übergegangen war, Menschenfleisch zu essen. Die Männer hatten sich in wütenden Kämpfen gegenseitig massakriert, viele waren ins Meer gerissen worden oder aus Verzweiflung hineingesprungen. Am Ende hatten die Stärksten die Sterbenden ins Wasser geworfen.

Die Nachrichten vom Untergang der Médusa und dem Horrorfloß entfachten in Frankreich einen Skandal, der das Land erschütterte. Der Unglücksreport der Überlebenden führte zur Verurteilung des Kapitäns und zu einer Welle öffentlicher Entrüstung, die ihren prägnantesten Ausdruck in Théodore Géricaults großformatigem Katastrophenbild fand, das heute zu den größten Schätzen des Louvre zählt - und von dem ein Ausschnitt das Cover von Franzobels Roman ziert...

Diese historisch verbriefte Geschichte von Verrat, Gewalt, Verzweiflung und Überlebenswillen hat der österreichische Schriftsteller Franzobel (Franz Stefan Griebl) in seinem neuen Roman (Shortlist Deutscher Buchpreis 2017) aufgegriffen und auf ganz eigene Weise interpretiert. Bis ins kleinste Detail hat er im Vorfeld recherchiert und die verfügbaren Quellen studiert, so dass er schon allein mit dem nautischen Vokabular eine überzeugende Vorstellung liefert. Doch dient das fast 600 Seiten währende Trommelfeuer grässlicher, schockierender und monströser Szenen nicht allein der Erzählung der historischen Begebenheiten - Franzobel hat hier unter gekonnter Vermischung von Fakten und Fiktion vielmehr eine verstörende Allegorie auf die Menschennatur verfasst.

"Wo es kein Brot gibt, gibt es kein Gesetz mehr. Jetzt ist es also so weit, der Mensch zeigt seinen Kern, das, was sich hinter der Schminke der Moral und unter der Haut der Kultur verbirgt, das wilde Tier." (S. 427)

150 Menschen in einer geschlossenen Gesellschaft - ohne eine Instanz von außen. Der Kampf ums Überleben - erst miteinander, dann gegeneinander. Binnen kürzester Zeit wurden hier alle Fesseln der Moral abgestreift - bis hin zum Kannibalismus. Vermutlich hatte Franzobel die Dramen im Kopf, die sich 200 Jahre später im Mittelmeer abspiel(t)en, als er diesen Roman schrieb. Auch dem Leser kommen die Parallelen unweigerlich in den Kopf. Doch im Roman selbst konzentriert sich der Autor ganz auf die historische Katastrophe. Er konfrontiert den Leser mit verstörenden Wahrheiten und zeigt, wie schnell der Mensch seinen moralischen Kompfass verliert, wenn es darum geht, die eigene Haut zu retten...

"Wir müssen eine gewisse Form der Zivilisation wahren, rümpfte Savigny die Nase. Es geht um unsere Selbstachtung (...) - Und was soll das sein, diese gewisse Form der Zivilisation? Griffon sah ihn mit kalten Augen an. Weil wir Christen sind? In der Bibel steht nirgendwo, dass man seinen Nächsten nicht verspeisen darf. Im Gegenteil: Dies ist mein Fleisch. Nehmet und esset alle davon..." (S. 467)

In der Regel bewundere ich Autoren, die sich eines bildhaften Schreibstils bedienen. Hier jedoch erfuhr ich oft mehr als ich wollte. Franzobel verschont den Leser in keiner Hinsicht. Nicht bezüglich der monströsen Gewalttaten, die teilweise auch beim Lesen schier unerträglich sind, aber auch nicht hinsichtlich des gnadenlosen Spiegels, den er dem Menschen als solchem vorhält. Niemand wäre in solch einer Extremsituation vor ähnlichen Entscheidungen gefeit, wie sie die Menschen auf dem Floß getroffen haben: Mord, Selbstmord, Selbsterhaltungstrieb bis hin zum Kannibalismus. Hier gibt Franzobel eine harte Nuss zum Nachdenken mit auf den Weg...

"Wenn wir es tun, werden wir nicht mehr dieselben sein. Wir sind keine Wilden, wir haben die Vernunft, die Aufklärung, Rousseau, Voltaire, Holbach. Wir sind zivilisierte Wesen, wir... (...) - Aber eben weil wir die Vernunft haben, beharrte Griffon, wissen wir, dass wir keine Todsünde begehen, sondern nur aus Not handeln." (S. 468)

Kein bequemes Buch, sondern ein Roman, der seinem Leser viel abverlangt - auch wenn Franzobel zwischendurch die Zügel ein wenig lockerer lässt und den abgründigen Ernst mit tiefschwarzem Humor, Zynismus und wohlplatzierten Überschriften seiner Kapitel auflockert. Anstrengend, ja, aber lesenswert!

© Parden