Rezension

Eine politische und alltagsbeschreibende Zeitreise in die DDR

Kastanienjahre - Anja Baumheier

Kastanienjahre
von Anja Baumheier

Bewertet mit 4 Sternen

Der Roman "Kastanienjahre" von Anja Baumheier erscheint im Wunderlich Verlag, zugehörig dem Rowohlt Verlag. Das Dörfchen Peleroich liegt an der mecklenburgischen Ostseeküste. Hier wächst Elise in den 60er Jahren auf, trifft zweimal auf die Liebe, einmal der bodenständige Henning und dann den Frauenschwarm Jakob, eine Künstlerseele, die Freiheit sucht. Es entsteht eine geheimnisvolle Ménage-à-trois, doch eines Tages ist Jakob verschwunden. Heute lebe Elise in Paris, dort führt sie ihre eigene Boutique und hat sich gut eingelebt. Sie kehrt nach Peleroich zurück und taucht in die alten Zeiten und in ihre eigenen Erinnerungen ein.

"Die 4b ist vollständig zum Unterricht angetreten. ... Für Frieden und Sozialismus: Seid bereit!" Zitat Seite 133

So ist das Leben in der Schule im Jahr 1970 in der DDR, wie auf einem Kasernenhof

Dieser Roman ist wunderbar zu lesen, auch wenn hier geschichtliche Vorgänge sehr realistisch beschrieben werden. Es beginnt mit der Gründung der DDR, wir erleben den Mauerbau und die Nach-Wendezeit. Der Autorin gelingt es sehr einfühlsam, diese Zeit spürbar und sichtbar zu machen.

Sie zeigt die Entwicklung der Betriebe hin zu LPGs, den Mangel an Konsumgütern und wie das sozialistische Denken um sich greifen konnte. Aber viel entscheidender sind die Schilderungen von
Bespitzelung und Denunziation durch die Stasi, die Ausreiseschwierigkeiten und die Fluchtversuche und Fluchthilfe. Man kann diese Lebensumstände unglaublich nah und bewusst nachvollziehen.

Auch die spätere Wiedervereinigung und der regelrechte Konsumschock für die Ex-DDR-Bürger hat mich an die damalige Zeit sehr erinnert.
Durch eigene Verwandte aus dem Osten habe ich die Vorgänge in der DDR zeitlebens gehört, ich weiß einiges über die Parteimenschen, den Sozialismus und die Gängelung von oben in der DDR und daran hat mich dieser Roman erinnert und erneut tief bewegt.

Anja Baumheier vermag mich mit ihrem leichten Erzählstil auf diese außergewöhnliche Zeitreise mitzunehmen und bringt mir die Zwänge und Schwierigkeiten der DDR-Bewohner sehr realistisch nahe. Viele haben unter dem politischen Druck und dem Verrat gelitten, einige konnten das aushalten und suchten den Zusammenhalt in der Dorfgemeinschaft, andere litten unter der Bespitzelung und suchten ihre Chance in der Flucht.

Durch die gut gezeichneten Romanfiguren erlebt man ihre Gefühle, ihre Sehnsüchte, ihre Liebe, doch sie können sich nicht eindeutig entscheiden, stehen unter dem politischen Druck des Sozialismus, sie entwickeln ihre eigenen Methoden, um damit umgehen zu können.

Auch wenn ich die Verstrickung dieser Liebesgeschichte zwischen Elise und Henning und Jakob gerne miterlebt habe, so hat mich nicht so sehr ergriffen, wie die sie umgebende deutsch-deutsche Geschichte.

 

Die Autorin versetzt ihre Leser sehr authentisch in die DDR-Zeit, sie zeigt die Probleme offen auf, beschönigt nichts, betrachtet ehrlich und macht sehr gut deutlich, wie die Wende für manche kleinen Orte den Untergang eingeleitet hat. Wer sich für deutsch-deutsche Geschichte und die Menschen im besonderen interessiert, wird hier einen sehr interessanten und bewegenden Roman vorfinden.