Rezension

Eine realistische Dystopie

Die Optimierer
von Theresa Hannig

Bewertet mit 4 Sternen

Dystopien werden derzeit so gerne gelesen wie nie zuvor. Im Anschluss an „Die Tribute von Panem“ hat sich ein eigenes Genre entwickelt, in dem junge Frauen gegen ein diktatorisches System kämpfen, um der Menschheit ihre Freiheit wiederzugeben. In vielen Spielarten finden sich diese Geschichten auf dem Buchmarkt. Die Optimierer hingegen geht einen Schritt zurück und ist viel näher an der wohl bekanntesten Dystopie, George Orwells „1984“. Mir gefällt diese Rückbesinnung sehr.

 

Die Naivität der Hauptperson

In der heutigen Zeit ist die Angst davor, was das Internet und die moderne Technik bald alles können wird, beinahe allgegenwärtig. Der gläserne Mensch, die Überwachung der Menschheit durch Roboter, all das sind keine neuen Ideen. Das Buch „The Circle“, welches gerade mit Emma Watson in der Hauptrolle verfilmt wurde, greift dieselbe Idee auf: Wenn alle jederzeit überwacht werden und dazu angeregt werden, sich mit anderen zu vernetzen, gibt es das absolute Wissen, nichts kann mehr in Vergessenheit geraten und die bösen Menschen werden schneller bestraft. Dass Rezept dieser Art von Dystopie besteht darin, dass dem Leser das System zunächst als gut und fortschrittlich präsentiert werden muss, damit die Schattenseiten umso offensichtlicher und drastischer geschildert werden können. Damit man aber ein eigentlich schlechtes System gut darstellen kann, benötigt man eine Hauptfigur, die zumindest in einem gewissen Umfang naiv ist. Dies war bei der Protagonistin aus „The Circle“ der Fall, weswegen ich das Buch entnervt abgebrochen habe – es war nicht zum Aushalten.

Samson Freitag, die Hauptperson in diesem Roman, ist ebenfalls naiv und deswegen treuer Staatsdiener. Aber seine Naivität ist gänzlich anders, weswegen er als Person so viel besser funktioniert. Er glaubt aus tiefstem Herzen an das System, geht mit seiner absoluten Korrektheit manchmal sogar seinen Kollegen von der Lebensberatung auf die Nerven. Er steht kurz vor der Beförderung, da er eine bestimmte Menge an Beratungsgesprächen durchgeführt hat und zudem beinahe 1000 Sozialpunkte erreicht hat. Sein Alltag dreht sich beinahe vollständig darum, Sozialpunkte zu sammeln. Überall sieht er Verbesserungspotential im System, informiert die zuständigen Behörden darüber, und nebenher begeht er regelmäßig wohltätige Handlungen. Er ist ein perfekt funktionierendes Rädchen.

 

Das realistische Grauen des Systems

Als sich sein Leben jedoch, wie im Klappentext erwähnt, urplötzlich zum Schlechteren wendet, sehen wir hinter seiner Naivität noch etwas anderes: Egoismus. Seine Hingabe zum System gründet sich nicht darin, dass er das System an und für sich gut findet, sondern vielmehr weiß er, wie er selbst Potential daraus schlagen kann, wie er am schnellsten Sozialpunkte sammeln kann, wie er steil Karriere machen kann. Jeder an seinem Platz lautet die Formel in dieser Gesellschaft und Samson weiß exakt, was er tun muss, um an seinen Platz zu gelangen. Deswegen glaubt er an das System.

Entsprechend schnell kann er sich auch mit Hass und Aggressionen gegen jene richten, die ebenfalls dem System dienen, als es bei ihm plötzlich bergab geht. Gerade weil er nicht aus Hingabe zur Gesellschaft, sondern nur für sich selbst wohltätig und systemkonform war, sieht er nach seinem Absturz überall nur noch, wie das System gegen ihn arbeitet. Er ist weiterhin naiv genug zu glauben, dass er nur wieder genügend Sozialpunkte sammeln muss, um in sein altes Leben zurückkehren zu können. Echte Verantwortung für die eigenen Taten, echte Reflexion findet nicht statt.

Es fällt schwer, Samson sympathisch zu finden. Genau das ist der Clou dieses Buches: Der Protagonist ist ein so widerwärtiger Mitläufer, er steht so sehr für all das, was an einer optimierten Gesellschaft nicht stimmt, dass das System selbst eine bedrohliche Authentizität erhält. Man kennt aus dem eigenen Leben diese Bürokraten, die penibel den Regeln folgen und genau deswegen allen anderen das Leben schwer machen. Durch die Linse von Samson erscheint es plötzlich nicht mehr unrealistisch, dass so ein dystopisches Regime wirklich entsteht.

 

Ein paar Schwächen bleiben

Auch die Auflösung am Ende passt in diese Vorstellung. Wieder begegnen wir der Naivität, wieder sehen wir, wie sehr diese Naivität der Gesellschaft insgesamt schaden kann. Der Glaube daran, das Richtige zu tun, ist sehr gefährlich.

Trotzdem hat das Buch auch einige Schwächen. Immer wieder beobachten wir zwischendurch Traum-Sequenzen von Samson, und ich gebe ehrlich zu: So sehr ich mich auch selbst für Träume interessiere, diese Abschnitte haben mich ratlos zurückgelassen, da ich die Symbolik nicht recht entschlüsseln konnte. Obwohl das Buch nur knapp 300 Seiten lang ist, fühlten sich einige Passagen doch ein wenig langgezogen an, ein wenig Raffung wäre hier und da nicht schlecht gewesen. Dennoch ist der Schreibstil über weite Strecken unterhaltsam, man lacht herzlich, bis einem zum Schluss das Lachen im Halse stecken bleibt.

 

Fazit:

Der Science-Fiction-Roman „Die Optimierer“ von Theresa Hannig ist eine angenehm düstere Dystopie, die nicht davor zurückschreckt, mit einem unsympathischen Hauptcharakter zu arbeiten. Die Mischung aus Naivität und Egoismus führt dem Leser deutlich vor Augen, wie leicht aus der Hölle der Bürokratie ein Regime wie dieses entsteigen könnte. Obwohl die Warnung vor den Möglichkeiten der Technik natürlich auch hier vorhanden ist, steht doch viel stärker eine andere Botschaft im Mittelpunkt: die Gefahr, die von dem Glauben an das absolut Richtige ausgeht. Nicht jeder Abschnitt des Buches konnte vollständig überzeugen, dennoch kann ich eine klare Kaufempfehlung aussprechen.