Rezension

eine recht schwierige Lektüre, über die man aber nachdenken sollte

Ich bin Tess - Lottie Moggach

Ich bin Tess
von Lottie Moggach

Bewertet mit 3.5 Sternen

Tess ist 38 Jahre alt und manisch depressiv. Sie will einfach nicht mehr leben und sieht keinen Sinn darin weiterzumachen. Das einzige was sie am Leben hält ist der Schmerz, den sie ihrer Familie zufügen würde. Tess ist eine sehr flatterhafte Persönlichkeit, was sich durch ihre bipolare Störung erklären lässt.  Sie hat durch die Medikamente außerdem starke Gedächtnisprobleme. Und sie hat ständig wechselnde Partner, weil sie es nie lange an einem Ort aushält.

" Ich sehe einfach keinen Sinn darin, immer und immer wieder dasselbe durchzuexerzieren, immer unsichtbarer zu werden, schlafen zu gehen und dabei ununterbrochen meinen eigenen Instinkt infrage zu stellen, mich entweder nur halb lebendig oder völlig außer Kontrolle zu fühlen. Ich will  einfach nicht mehr." (Zitat Seite 75 - Auszug aus Tess´Email an Leila)

"Es gibt keine Hoffnung, dass ich je von mir selbst geheilt werden könnte." (Zitat Seite 105)

Leila ist als sie auf Tess trifft gerade mal 23 Jahre alt. Sie lebt wie ein Einsiedler in einer kleinen schäbigen Wohnung über einem Restaurant. Ihr Mutter ist an MS gestorben und sie hat auch sonst keine wirklichen Kontakte zur Außenwelt. Sie führt Softwaretests für ein Onlineportal durch und das auch noch von zu Hause aus. Sie geht eigentlich nur zum Einkaufen weg. Da stößt sie auf das Internetportal "Red Pill", auf dem über allerlei tiefgründige Fragen zum Leben und zur Moral diskutiert wird. Der Name des Portals stammt aus Matrix, wo die Leute die eine rote Pille nehmen die Augen geöffnet bekommen, während diejenigen die die blaue Pille nehmen alles vergessen und so weiterleben wie bisher. Dort lernt Leila den Betreiber Adrian kennen, weil er einige Beiträge von ihr so toll fand. Er macht ihr bald den Vorschlag für Tess ihr Leben online weiterzuführen, damit ihre Familie nicht trauert. Nach einem halben Jahr soll sie langsam alle Kontakte einschlafen lassen, damit niemand Tess vermisst. Leila nimmt zu Tess Kontakt auf um alles über ihr Leben zu erfahren. Und so nimmt die Geschichte ihren Lauf. Doch kann Leila Tess vertreten, ohne dass jemand Verdacht schöpft? Wann fliegt eine solche Lüge auf?

Ich habe fasziniert beobachtet, wie Leila immer mehr in der Rolle als Tess aufgeht. Da sie selbst kein eigenes Leben hatte, stürzt sie sich mit einem Eifer in ihr neues Leben, der zeigt wie einsam sie eigentlich ist und wie gern sie ein wenig mehr wie Tess wäre. Die Tatsache, dass sie sich präzise Aufzeichnungen gemacht hat und sogar einen Zeitstrahl anfertigt über Tess´Leben sagt viel über die Ernsthaftigkeit aus mit der Leila ihre Aufgabe angeht. Leila tut mir in gewisser Weise auch leid. Sie weiß nicht wie es ist einen großen Freundeskreis zu haben und sie empfindet es auch nicht als falsch was sie tut. Sie sagt sie ist für die Selbstbestimmung und somit auch für die freie Entscheidung, wenn man vorzeitig aus dem Leben scheiden will.

Diese Geschichte ist keine Lektüre für zwischendurch. Man lernt jedes Ereignis in Tess und Leilas Leben kennen und das Buch ist so voll an Informationen, dass man immer mal innehalten muss um sich alles merken  zu können. Durch diese Fülle an Informationen ist das Buch leider auch stellenweise recht langatmig, weil seitenweise nichts anderes passiert als die Füllung der Biografie für Leilas Akten. Die Thematik bringt einen dennoch zum Nachdenken. Nicht nur darüber ob Leilas Handeln richtig ist, sondern auch darüber wie sehr unser Leben digitalisiert ist und wie einfach es ist jemanden auswandern zu lassen, um dann via Facebook zu simulieren, dass diese Person noch lebt. Der Gedanke ist wirklich erschreckend, aber es würde wohl bei vielen privaten Kontakten funktionieren, weil viele heutzutage nach dem Motto: "aus den Augen aus dem Sinn" leben. Es würde wohl bei fast allen Kontakten funktionieren und nur wirklich enge Freunde und Familie würden bemerken dass etwas nicht stimmt.

Ich würde das Buch denjenigen empfehlen, die nach einer tiefgründigen und umfangreichen Geschichte suchen. Wer jedoch eine actionreiche Geschichte sucht wäre mit dem Buch nicht gut beraten. Es handelt sich hier um eine moralisch tiefgründige Geschichte, die mich wohl noch eine Weile verfolgen wird. Meines Erachtens nach gibt es einfach viel zum Nachdenken nach dem Lesen. Gestört haben mich nur die langatmigen Stellen, weil ich alle Informationen über Tess und Leila gar nicht wirklich abspeichern konnte in diesem Umfang.