Rezension

Eine reine Frau

Tess - Thomas Hardy

Tess
von Thomas Hardy

Bewertet mit 5 Sternen

"Für sie und ihresgleichen war schon die Geburt ein Martyrium entwürdigenden persönlichen Zwanges, dessen Willkür im Ergebnis durch nichts gerechtfertigt schien und im besten Falle nur gelindert werden konnte."

Als die arme Familie Durbeyfield beiläufig erfährt, dass ihr Nachname eine Abwandlung der mächtigen Ahnenreihe 'd'Urbervilles' sei, drängen sie die junge Tess, die älteste Tochter, dazu, die Nachkommen des früheren Adelsgeschlecht aufzusuchen und die Verwandtschaftsverhältnisse geltend zu machen – in der Hoffnung, finanzielle Unterstützung zu erlangen. Auf dem Anwesen einer alten Witwe angekommen, hat der Besuch fatale Folgen für Tess. Das unbarmherzige Schicksal nimmt seinen Lauf...

"Die schlichte Tess Durbeyfield stand an der Biegung des Kiesweges starr vor Staunen in fast erschrockener Haltung davor. Ihre Füße hatten sie schließlich bis hierher gebracht, bevor sie richtig erfaßt hatte, wo sie sich befand; und nun war alles ganz anders, als sie es erwartet hatte."

In 'Tess' (dessen Untertitel im Original 'A pure woman' lautet) erzählt Thomas Hardy das Leben und Leider eines jungen Mädchens, das dem Schicksal, den viktorianischen Gesellschaftskonventionen des 19. Jahrhunderts und der Doppelmoral der damaligen Zeit zum Opfer fällt. Als der Schicksalsroman 1891 erschien, sorgte er für viel Aufsehen und Empörung. Heute zählt er zu den großen Klassikern der englischen Literatur - meiner Meinung nach zu Recht.

Der Schreibstil weist eine gute Leserlichkeit auf und besitzt meiner Meinung nach eine formvollendete Eleganz, was den Charme guter Klassiker ausmacht, sofern man sich u.a. auf längere Schachtelsätze einlassen kann. Das Erzähltempo ist – im Vergleich zur durchschnittlich zeitgenössischen Literatur – stellenweise eher langsam gehalten; hier verweilt der Leser beispielsweise bei längeren Naturbeschreibungen, die jedoch oftmals das Innenleben der Figuren treffend zu spiegeln wissen.

"Die mitternächtlichen Lüfte und Böen, die zwischen den noch fest geschlossenen Knospen und der Borke der winterlichen Zweige ächzten, waren Laute bitteren Vorwurfs. Ein regnerische Tag war der Ausdruck unabänderlichen Grams über ihre Schwäche, wie ihn irgendein ethnisches Wesen, das sie nicht klar als den Gott ihrer Kindheit erkennen oder als irgendeinen anderen begreifen konnte, empfand."

Die allgemeine Stimmung des Romans ist eher deprimierend, und somit stellt das Buch keine Lektüre a la Jane Austen dar, die zu Momenten des Wohlbefindens beiträgt. Obgleich das Buch eine Liebesgeschichte enthält, liegt der Fokus zweifellos auf die Kritik, die sich hier an den damaligen Stand der Frauen, dem Gefängnis der Konventionen, den zwischenmenschlichen Vorurteilen und den festgefahrenen Moralvorstellungen richtet.

"Niemals in ihrem Leben hatte sie selbst – das konnte sie aus tiefster Seele schwören – etwas Unrechtes tun wollen; und doch war sie so hart beurteilt worden."

Gerade die Bestimmungen, denen die Protagonistin von außen hilflos ausgeliefert zu sein scheint, sind manchmal nur schwer zu ertragen, wirken jedoch in Bezug auf den zeitlichen Kontext überaus realistisch. Hier und dort blitzt ein liberales Gedankengut hervor, welches aber (ebenfalls der Zeit verschuldet) lediglich in Andeutungen angelehnt ist, wie im folgenden Beispiel vielleicht ersichtlich ist:

"Tatsächlich zog A. – zu Recht oder Unrecht (um die risikofreie Ausdrucksweise im Ausweichen geübter Polemiker zu benutzen) – an schönen Sommertagen die Predigten der freien Natur denen in Kirchen und Kapellen vor."

Grundsätzlich kommentiert der auktoriale Erzähler einige Stellen, bei denen ich mir gerne meinen eigenen Gedanken und Schlussfolgerungen nachgegangen wäre. Dies stellt für mich aber keinen Kritikpunkt dar, da es für den Autor die einzige (und gewagte!) Möglichkeit war, die allgemeinen Vorstellungen seiner damaligen Zeit klar und deutlich in Frage zu stellen.

Gelungen finde ich außerdem, dass die Wendungen und Überraschungen, mit denen die Geschichte keinesfalls geizt, allesamt von Figuren ausgelöst werden, sodass eine reizvolle Dynamik entsteht. Die wesentlichen Charaktere sind gut ausgearbeitet und durchleben ebenfalls die eine oder andere Entwicklung, wobei anzumerken ist, dass sie den Kern ihres Wesens nicht in Gänze ablegen und somit nicht aus der eigenen Haut schlüpfen können, was sie somit authentisch und glaubhaft macht.

Hervorzuheben ist außerdem, dass das Buch quasi ein Spiel mit heidnischen und biblischen Bildern betreibt, indem in der Geschichte bspw. ein Hahn dreimal kräht. Diese Verweise erlangen jedoch dank des Kontextes eine andere Bedeutung. So wird hier nicht eine andere Person verleumdet, sondern Verrat an der eigenen Person begangen. Diese symbolischen Andeutungen zu finden und zu entschlüsseln, machte für mich einen Teil der Spannung aus, wobei man den Roman getrost ohne Deutungen lesen kann, wenn man möchte.

Mit Tess ist dem Autor eine besondere Figur gelungen, die vielerlei repräsentiert, da sie den Inbegriff der personifizierten (weiblichen) Natur darstellt. An mehreren Stellen betont Hardy Tess' Naturverbundenheit – daher auch die vielen Landschaftsbeschreibungen – und lobt einerseits das ländliche Leben, kritisiert jedoch im gleichen Zuge die damalige Modernisierung des Landbaus und den Abkehr des Menschen von der unverfälschten Natur.

"[...] wenn sie dann draußen im Wald war, schien sie sich am wenigsten einsam zu fühlen. Es gelang ihr, haargenau den Augenblick des Abends abzupassen, da sich das Licht und die Dunkelheit in einem solchen Gleichgewicht befanden, daß die Zwänge des Tages und die Unbestimmtheit der Nacht einander aufhoben und den Gedanken völlig freien Flug gewährt war. In diesem Augenblick geschieht es, daß das Elend, am Leben zu sein, auf das kleinstmögliche Maß zusammenschrumpft. Tess fürchtete die Dunkelheit nicht; sie schien von dem Gedanken beherrscht, die Menschen zu meiden – oder vielmehr diese kalte Formation von Materie, die man Welt nennt, die, so schrecklich in der Masse, gar nicht furchterregend, ja, selbst mitleiderregend in ihren einzelnen Elementen ist."

Spannend ist außerdem, wie feministisch Thomas Hardy bereits dachte. Der Leser erfährt immer wieder, wie sehr doch Tess' Schönheit mehr Fluch als Segen ist, da ihr von anderen Figuren vorgeworfen wird, sie bringe andere ob ihres Erscheinungsbildes in Versuchung. Während des Lesens ertappte ich mich dabei, wie ich Tess ab und an auf ihr Äußeres reduzierte. Solche Spiele mit dem Leser weiß ich sehr zu schätzen.

"Unter diesem Äußeren, über das der Blick wie über eine fast fühllose, beinahe unorganische Sache hinwandern konnte, lagerten die Erinnerungen pulsierenden Lebens, das für seine Jahre nur zu sehr von der Vergänglichkeit aller Dinge, von der Grausamkeit sinnlicher Begierde und der Brüchigkeit der Liebe erfahren hatte."

Ich könnte noch auf weitere Punkte, wie beispielsweise den gelungen eingewobenen Naturalismus, eingehen, um den Roman weiterhin schmackhaft zu machen, belasse es jedoch bei den bisherigen Ausführungen und möchte den Klassiker schließlich jedem empfehlen, der eine düstere und kritische Darstellung - die in manchen Punkten erschreckend zeitlos ist! - des Viktorianischen Zeitalters sucht. Ich war und bin begeistert.

"Es war keine reife Frau mit einer langen Reihe dunkler Erfahrungen und Affären hinter sich, die solche Qualen litt, sondern ein Mädchen mit einem schlichten Leben, noch nicht einundzwanzig Jahre alt, das in den Tagen seiner Unreife wie ein Vogel in eine Schlinge geraten war."