Rezension

Eine ruhige Geschichte voller Zauber

Seeherzen - Margo Lanagan

Seeherzen
von Margo Lanagan

Bewertet mit 4 Sternen

"Ich habe die Fey nicht früher bestellt" entgegnete sie. Ich war froh, dass ich nicht Abut war, bei dem Blick, den sie ihm zuwarf.
"Natürlich nicht. Aber wir haben genug von wichtigtuerischen Schnüfflern. Von Cordlin-Leuten, die sich über uns lustig machen."
"Was kümmert's euch", gab Misskaella ziemlich laut zurück - die Cordliner hatten sich aber bereits zu weit von der Mole entfernt, um sie noch hören zu können -, "was kümmert's euch, was ein paar Leute aus Cordlin denken, wo ihr doch die schönsten Frauen der Welt habt?"

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INHALT:
Die beschauliche Insel Rollrock Island ist mit seinen wenigen Bewohnern und der Abschottung von der Außenwelt, weil sie nur mit dem Schiff zu erreichen ist, eigentlich schon ungewöhnlich genug. Die Bewohner der Küstenstädte ringsherum reden jedoch aus einem anderen Grund darüber: Denn eine Hexe holt dort Frauen aus den Körpern von Robben - wunderschöne Frauen, denen die Männer sofort verfallen. Auf diese Weise nimmt die Hexe eine Rache, mit der sie das gesamte Dorf ins Unglück stürzen will. Und das gelingt ihr sehr gut...

MEINE MEINUNG:
Robben, die an Land ihren Pelz ablegen und zu wunderschönen Frauen werden, stammen aus der schottischen Mythologie, wo sie Selkies genannt werden. Dieses Wort fällt in Margo Lanagans "Seeherzen" zwar kein einziges Mal, dennoch weist ihre Art modernes Märchen Parallelen zu den alten Geschichten auf. Der Unterschied ist hier, dass nur die Hexe die Gabe besitzt, Frauen aus den Robben herauszuholen. Dabei ist der Schreibstil geprägt von wunderschönen und detailreichen, aber nicht ausufernden Beschreibungen; erzählt wird der Roman aus vielen verschiedenen Perspektiven in der Ich-Form.

Hauptfiguren gibt es einige, wodurch es an einem wirklichen Protagonisten fehlt. Die Charaktere erzählen ihre Erlebnisse oftmals zu unterschiedlichen Zeiten und geben so einen Einblick in die Geschehnisse, die über Jahrzehnte vor sich gehen. Die Hexe, Misskaella, ist eine verbitterte und bösartige Frau, die ihren Mitmenschen viel Leid zufügt - gleichzeitig kann man ihre Beweggründe jedoch auch nachvollziehen. Aus der Familie Mallett erzählen gleich zwei Personen: Dominic und sein Sohn Daniel. Beide sind sehr unterschiedlich - während Dominic gern stark wäre und ihm dies nicht gelingt, setzt Daniel tatsächlich um, was er sich vornimmt. Insgesamt sind alle wichtigen Charaktere überzeugend und authentisch ausgearbeitet, die Nebenfiguren werden dafür jedoch häufig zu Statisten degradiert.

Spannend und originell ist die Storyline dafür allemal. Margo Lanagan gelingt es sehr gut, die verschiedenen Geschichten der einzelnen Figuren miteinander zu verbinden, sodass sie letztendlich ein großes Ganzes ergeben. Nicht nur erfährt man die Motive aller, sondern auch, wie es zu der Abgrenzung des gesamten Dorfes gegenüber den Küstenstädten kam - nur, um die Meerfrauen ganz für sich zu behalten. Obwohl das Ganze selbstverständlich phantastisch ist, lassen sich gleichzeitig, wie man das auch von alten Märchen kennt, Parallelen zum echten Leben ziehen: Denn wer möchte nicht die schönste aller Frauen haben, die einen bedingungslos liebt und alles für einen tut? Und wer wird nicht von wahrer Schönheit geblendet, sodass vieles dagegen unwichtig erscheint?

Zwischendurch allerdings passiert es durchaus, dass in dem ganzen System von einzelnen Strängen der rote Faden verloren zu gehen scheint. Die Autorin verliert sich manches Mal in unwichtigen Kleinigkeiten, beschreibt lang und breit das Leben einer einzigen Figur, obwohl dies letztendlich auch weitaus kürzer hätte passieren können. Auf diese Weise bleibt eine zwischenzeitliche Langatmigkeit nicht aus. Das Ende selbst ist dann zwar gut gewählt und bietet vor allem einen guten Ausblick auf die Zukunft - es wirkt aber auch ein wenig zufällig, weil diese Begebenheit relativ unwahrscheinlich ist im Anbetracht, wie viele Menschen selbst in Küstenstädten wie Cordlin oder auf Inseln wie Rollrock Island leben. Letztendlich tut das dem Gefühl jedoch keinen Abbruch: Dem Gefühl, nichts Spektakuläres, aber etwas Reines und sehr Tiefgehendes gelesen zu haben. 

FAZIT:
Der Verlag beschreibt Margo Lanagans "Seeherzen" als einen Roman für geübte Leser. Das kann ich vom Schreibstil her nicht unterschreiben, dafür aber im Bezug auf die Geschichte selbst. Denn diese ist langsam, ruhig, dahinfließend - und auf ihre Weise sehr besonders und sehr schön. Nicht alles ist perfekt, aber das muss es auch nicht. 4 verdiente Punkt und eine Empfehlung für Leser, die gern einmal etwas ausprobieren möchten.