Rezension

Eine schmerzlich-schöne Geschichte, voller Lebensrealität der Weimarer Republik

Als wir unsterblich waren - Charlotte Roth

Als wir unsterblich waren
von Charlotte Roth

Zum Inhalt: Die Handlung des Buches spielt auf zwei unterschiedlichen Zeitebenen – beides Zeiten des Umbruchs und des Aufruhrs in Berlin: Die Rahmenhandlung spielt im November/Dezember des Jahres 1989. Es ist die Zeit des Mauerfalls. Der Strudel der Ereignisse, die wilde, wogende Lebenswelle, die plötzlich durch Berlin schwappt, treibt die junge Alex über die plötzlich offene Grenze in das fremde West-Berlin - und dort direkt in die Arme von Oliver. Oliver, in den sie sich sofort verliebt und der die sonst eher ängstliche und zurückhaltende Alex aus ihrem behüteten und zurückgezogenen Leben, das sie an der Seite ihrer Großmutter führt, nicht nur in seine Arme, sondern gleichzeitig in etwas Aufregendes und Neues hineinzieht. Alles scheint plötzlich möglich, in dieser aufregenden und fremden Zukunft. Doch bevor Alex und Oliver an ihrer Zukunft stricken können, gilt es, der Vergangenheit ein Geheimnis zu entlocken. Warum reagiert Alex Großmutter, die ihr Mutter und Omi zugleich ist und von ihr liebevoll Momi genannt wird, so heftig auf Oliver, dass es sie sogar ins Krankenhaus bringt? Mehr und mehr Fragen beschäftigen Alex, der plötzlich klar wird, dass sie nichts über die Vergangenheit ihrer Großmutter, die ja auch ihre eigene Geschichte ist, weiß…Welches Last trägt Momi auf dem Herzen? Warum verkriecht sie sich so und lässt weder das Leben noch andere Menschen an sich heran?

Auf der zweiten Zeitebene, welche die hauptsächliche Handlung des Buches ausmacht, begegnen wir der jungen Paula Thomas im Jahr 1912. Die politische Ordnung in Europa erscheint zunächst noch stabil. Allein die sich zuspitzende Wirtschaftslage wird Paula plötzlich schmerzlich bewusst, als ihr Vater seinen Job verliert. Doch gleichzeitig ist das Leben für die fast sechzehnjährige Paula voller Verheißungen und Möglichkeiten. Sie verbringt den Sommer 1912 an der Seite ihres Bruders Manfred und dessen Freunden im Strandbad am Wannsee, und schon bald ist ihr Herz für den schönen, redegewandten und charmanten Clemens Kamphausen entbrannt. Wie Manfred ist Clemens ein glühender Anhänger der SPD und kann schon in jungen Jahren andere Menschen von seinen Ansichten überzeugen und für seine Vorhaben gewinnen.

Doch die Geschichte nimmt ihren Lauf und schon bald zeichnet sich der Erste Weltkrieg als dunkles Gespenst am Horizont ab.

An der Seite Paulas, Clemens, Manfred und den übrigen Freunden, die in den folgenden zwei Jahrzehnten verzweifelt versuchen, das Lebenswerte und Menschliche zu bewahren,  erlebt der Leser den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik und ihre gesellschaftlichen Umwälzungen und schließlich das Erstarken der Nationalsozialisten bis hin zur Machtergreifung Hitlers.

Wird die Liebe zwischen Paula und Clemens die schwere Zeit überdauern? Wohin führt die Parteiliebe Paulas Bruder Manfred? Welches Schicksal droht Manfreds Freund Harry und dessen Bruder Joachim, die beide Juden sind?

Eigene Meinung: Dieses Buch hat mir wie bisher kein anderes die Zeit und die gesellschaftliche Realität vor und während dem ersten Weltkrieg, sowie die der Weimarer Republik näher gebracht. Zudem war es ein wirklich großes Lesevergnügen, voller Emotionen, voller Informationen, voller Leben und Lebensrealität. Es hat unheimlich viel Spaß gemacht, den Indizien im Buch zu folgen, Hinweise zu verknüpfen und immer neue Theorien aufzustellen, um die Verbindung zwischen Alex, Momi, Paula und den vielen anderen Charakteren aufzulösen und die Geschichte als Ganzes zu verstehen! Hier ist der Autorin in meinen Augen ein konzeptionelles Meisterstück gelungen.

Wunderbar getragen wird die niemals langatmige Handlung außerdem durch die wunderbare Auswahl an Charakteren. Ich denke, jeder Leser wird hier seinen persönlichen Liebling finden. Die Vielzahl an Figuren haben bei mir während des Lesens eine breite Palette von Emotionen hervorgerufen -  Bewunderung, Mitgefühl, Abscheu, Erschrecken, (Mit-)Freude, Angst, Entsetzen, Ohnmacht, Verständnis und Unglauben.

Doch der Hauptverdienst der Autorin ist es in meinen Augen, dass es ihr nicht nur gelungen ist, ein eindringliches und informatives Buch über die Schrecken und Zusammenhänge der Zeit des Ersten Weltkriegs sowie der Weimarer Republik zu schreiben, in dem Geschichte mit großer Leichtigkeit und niemals trocken vermittelt wird. Gleichzeitig erzählt sie jedoch auch ungemein berührend von den Hoffnungen und Träumen der Menschen in dieser Zeit, von Momenten des Glücks, die, da sie wie dem grausamen und beängstigenden Alltag gestohlen wirken, eine ungemein berührende und authentische Wirkung haben.

In folgenden schönen Worten wird dies von einem der Hauptcharaktere zusammengefasst: „Sind wir berühmt für unsere schlimmen Zeiten […]? Wir hatten so viele gute Tage. […] Wir waren die Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten, wir hatten Brecht und die Dietrich, Einstein und das Sechstagerennen, Fritz Langs Filme, den Wintergarten und die Weltbühne, Nacktbadestrände, Kleider ohne Taillen und verrauchte Nächte im romantischen Café."

Ein trauriges, ein schönes und ein sehr beeindruckendes Buch mit einer hoffnungsvollen Botschaft! Ich werde es sicherlich noch vielen Leuten empfehlen!