Rezension

Eine schonungslose Abrechnung mit einer perspektivlosen Gesellschaft

Die Wütenden und die Schuldigen -

Die Wütenden und die Schuldigen
von John Düffel

Bewertet mit 4 Sternen

John von Düffel skizziert in „Die Wütenden und die Schuldigen“ anhand des Verfalls einer Familie zu Anfang der Corona-Krise gekonnt die allumfassende Perspektivlosigkeit. Distanz und Nähe funktionieren in dieser Familie nicht, da die Beziehungen traumatisiert sind. Die aktuelle pandemische Situation führt zu einer Auseinandersetzung mit dem Tod, die in Schuldgefühlen und in Wut kulminiert. Die Frage nach Vergebung wird zentral.

Drei Generationen einer zerrissenen Familie kommen in diesem gesellschaftskritischen Roman zu Wort: Der Großvater Richard, ein Pfarrer in der Uckermark, der allerdings seit dem Tod seiner Frau bei der Geburt ihres Sohnes, nicht mehr an Gott glaubt, hat Krebs im Endstadium. Selma, seine Enkelin, fährt in Begleitung einer skurrilen Palliativmedizinerin zu ihm und muss dort negative und traumatisierende Erfahrungen mit der provinziellen Dorfjugend machen. Selmas Mutter, Maria, Anästhesistin in der Charité in Berlin, ist quarantänebedingt gezwungen, in der Hauptstadt zu bleiben. Durch einen Zufall lernt sie jedoch einen Rabi kennen, der auf der Suche nach seinen familiären Wurzeln in dem über ihrer Wohnung liegenden Apartment gestrandet ist. Daraufhin verbringt sie die Quarantäne bei ihm und arbeitet mit ihm ihre Familiengeschichte auf, auch um ihrem Sohn Jakob aus dem Weg zu gehen. Jakob ist ein orientierungsloser Kunststudent und ein klassisches „Muttersöhnchen“, der keinerlei Verantwortung für sich übernehmen kann, weshalb die Beziehung zu seiner Freundin scheiterte und er sich daher in eine hoffnungslose Schwärmerei für seine Kunstprofessorin und schließlich in den Drogenrausch flüchtet. Selma fasst die zentrale familiäre Situation wie folgt zusammen: „Mir geht`s gut - abgesehen davon, dass mein Opa stirbt, meine Mutter in Quarantäne ist, mein Vater in der Psychiatrie und mein Bruder sich um gar nichts kümmert."

Aus der Perspektive von Richard, Selma, Maria und Jakob werden die Details der aktuellen Handlung erzählt. Gleichzeitig erfährt der Leser durch sie die Vorgeschichte. Hierbei wird deutlich, dass die heimliche und zentrale Hauptfigur eigentlich der abwesende Holger ist, Sohn von Richard, Vater von Jakob und Selma und Ex-Mann von Maria, der sich nach einem Suizidversuch in einer Psychiatrie befindet. Über die Beziehungen zu ihm reflektieren alle Protagonisten und loten hier ihre Schuld und ihre Wut aus, die bereits der treffende Titel des Romans thematisiert. Beispielhaft sei nur Richard erwähnt, der sich seinem Sohn gegenüber schuldig fühlt, da er ihn aufgrund des Todes seiner Frau bei der Geburt nicht so wie einen Sohn lieben konnte. Vater und Sohn haben daher seit Jahrzehnten nicht mehr miteinander gesprochen. Und auch jegliche Versuche – insbesondere seitens Selmas –, eine Kommunikation wieder in Gang zu setzen, scheitern. Symptomatisch erscheint, dass Richard zeitweise Jakob für Holger hält. Die (Schuld)Gefühle präsentieren sich folglich auch als genetisch bedingt und die fehlende Kommunikation wirkt familientypisch. So bleiben alle Beziehungen distanziert und doch sehnen sich alle nach Nähe. Die Corona-Situation stellt in diesem Roman nur das Brennglas für die familiären (und somit gesellschaftlichen) Zustände dar.

Sicher ist, dass von Düffel dem Leser bzw. der Gesellschaft mittels dieser perspektivlosen Familie einen Spiegel vorhalten will. Das realisiert er mit einem Text, der unglaublich dicht, aber auch schwermütig und teils brutal ist. Gestreift werden viele Themen, die Pandemie, das ostdeutsche Provinzleben, die Nazi-Vergangenheit, das gesellschaftliche Versagen und das Sterben, um nur einige zu benennen. Die Ängste, Nöte und das menschliche Versagen bekommen eine Form. So etwas bleibt natürlich nicht folgenlos. Als Leser möchte man an der ein oder anderen Stelle widersprechen und sich wehren. Reaktionen und Denkprozesse werden angestoßen. Dass es sich um einen tiefgründigen, intelligenten und sprachlich teils brillanten Roman handelt, bleibt daher unbestritten. Allerdings versprüht der provokante Roman eine absolute Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit, der auch das gelungene Ende nichts entgegenzusetzen hat. Daher gibt es von mir – trotz literarischer Qualität – nicht die volle Punktzahl!