Rezension

Eine Sehnsucht aus Blei

Miroloi - Karen Köhler

Miroloi
von Karen Köhler

Bewertet mit 4.5 Sternen

Wo sind wir? Wann sind wir? Dieses Buch ist schwer zu verorten, noch schwerer zeitlich festzulegen.
Anfangs war ich mir sogar unschlüssig: sind wir überhaupt in unserer Welt oder hat Karen Köhler eine dystopische Parallelwelt entworfen? Aber im Laufe der Lektüre stößt man hier und dort auf Versatzstücke, die erahnen lassen, dass der Schauplatz gleichzeitig eine vollkommen in sich geschlossene, quasi zeitlose Gesellschaft beherbergt – und doch nur einen Wimpernschlag von unserer Realität entfernt ist.

Ein Geniestreich, der eine starke Grundlage für eine Geschichte bietet, in der das Wort „Emanzipation“ niemals fällt, weil diese Benennung überflüssig ist.

Wir sind auf einer Insel, wo die Dinge keine Namen haben. So heißt die Insel nur „die Schöne Insel“, das Dorf nur „das Schöne Dorf“, was sich schnell als geradezu lachhafter, perverser Euphemismus herausstellt. Hier werden Frauen so gründlich entmachtet, als habe es so etwas wie Emanzipation nie gegeben.

Sie schuften den ganzen Tag, arbeiten auf dem Feld, kochen, putzen, nähen für ihre Männer und haben dabei keinerlei Rechte. Ab und an werden sie als Zahlungsmittel eingesetzt – der Händler tauscht besonders begehrte Waren gegen Sex, wobei die Frauen natürlich nicht mitreden dürfen – oder grün und blau geschlagen. Sie erhalten keine Bildung, die über Hauswirtschaft hinausgeht; das bleibt den Jungen vorbehalten, denen umgekehrt verboten ist, zu singen, kochen oder sich künstlerisch zu betätigen.

Auch autonom dürfen die Dorffrauen sich keine Bildung aneignen. Wird eine von ihnen dabei ertappt, sich gar das LESEN (!!) beizubringen, steht darauf der Schandpfahl.

Und genau da setzt die Geschichte ein. Denn die Heldin der Erzählung wünscht sich schon seit ihrer frühsten Kindheit sehnlichst, diese magische Gabe zu besitzen – diese rätselhaften Zeichen zu verstehen, weil sie ahnt, dass sich dahinter ganz neue Welten verbergen. Aber sie, ein Findelkind, hat noch nicht mal einen eigenen Namen: sie ist die „Eselshure“, die „Nachgeburt der Hölle“ oder einfach nur „Schlitzi“, ein abwertendes Wort für eine Frau.

Der Schreibstil spiegelt perfekt wieder, wie eingeschränkt sie in ihrem Leben bisher war, wie unterdrückt und klein gehalten. Ihre Sprache ist anfangs geradezu schmerzhaft einfach und unbeholfen, und doch spürt man in jedem Satz: da steckt jemand drin, der kreativ und intelligent ist. Sie stellt sich dumm, „macht sich weg“, hat einen blödsinnigen Gesichtsausdruck perfektioniert, weil das sicherer für sie ist, und doch kratzt sie von innen an den Wänden ihres mentalen Gefängnisses.

Als ihr Findelvater, der „Betvater“ des Dorfes und damit eine Autoritätsperson, damit beginnt, sie heimlich im Lesen zu unterrichten, erweitert ihre Welt sich so rasant, dass einem beim Lesen schwindlig werden kann. Es ändert nichts an ihrem Status im Dorf, es gibt ihr keine Rechte, es ist sogar nur eine weitere Sache, die sie in sich verschließen und vor dem Dorf verstecken muss. Aber es zeigt ihr: es gibt mehr als das hier.
Ihre Sprache verändert sich, erweitert sich, gewinnt eine ganz eigene Art von Poesie.

„Das müde Meer mit nichts obendrauf als einer Silberspiegelfläche, die ist zum Erkennen da, ist ein Fenster, ist eine Tür, ist eine Sehnsucht aus Blei.“
(Zitat)

Der Autorin gelingt es, der ohnehin schon ausdrucksstarken Geschichte über Klang und Struktur der Sprache eine zusätzliche Dimension zu verleihen. Sie, die Erzählerin, die Namenlose, singt sich ihr eigenes Miroloi, ihr eigenes Totenlied. Wenn sie das auch nur innerlich tut, ist es doch ein Akt der Rebellion und Befreiung.

„Mein Miroloi muss ich mir selber singen damit kann ich nicht warten, bis ich gestorben bin, sonst wird es mich nicht gegeben haben.“
(Zitat)

Ihr Findelvater lässt sie die Khorabel lesen, das heilige Buch der Gemeinschaft, und zeigt ihr, wie die Obrigen es im Laufe der Zeit immer weiter zensiert und umgeschrieben haben, um die Entmachtung der Frauen zu rechtfertigen. Die Wechselwirkung von Religion und Gesellschaft bildet eine weitere Dimension der Geschichte, insbesondere der Einsatz beziehungsweise Missbrauch von Religon als Werkzeug und Waffe.

Nach und nach schleicht sich auch die Außenwelt in das beinahe hermetisch abgeriegelte Dorf ein, nicht nur über die Händler vom Festland. Es gibt Interessenten, die das Dorf in die Moderne führen wollen (wenn auch aus eigennützigen Gründen), doch die männliche Dorfgemeinschaft verweigert sich zunehmend panisch, während die Frauen aufhorchen.

Hier geht es nicht nur um Frauenrechte, sondern genauso um die Ängste der Männer, die zur Unterdrückung der Frauen führen. Hier geht es auch um Tradition und Gemeinschaft. um Fortschrittsverweigerung und Fremdenhass und Ausgrenzung.

Doch das Miroloi der Erzählerin erklingt nach und nach in weiteren Tonarten der Rebellion. Zu Bildung und Religionskritik gesellen sich Sex und Liebe.

Erstens: sie gewinnt eine Freundin, von der sie aufklärt wird (was bisher niemand für nötig gehalten hat) und mit der sie lernt, ihre eigene Sexualität zu erkunden. Hier ist Sex mehr als nur Sex, er ist Befreiung, Selbstbestimmung und Rebellion, wenn auch nur im Geheimen.

Zweitens: sie, die keine Rechte hat, verliebt sich in einen Betschüler, der nicht lieben darf. Yael schläft nicht nur mit, sondern gibt ihr einen eigenen Namen. Ein doppeltes, ein dreifaches Tabu, womit sich der Einsatz erhöht – jetzt geht es nicht nur darum, dass der Schandpfahl droht, jetzt ist es eine Frage von Leben oder Tod.

Die Liebesgeschichte ist in meinen Augen so symbolisch wie alles, was die Erzählerin erlebt, und dadurch fernab jeden Kitsches. Letztlich geht es hier immer wieder darum, wie ihr Schicksal die Gesellschaft und insbesondere die Frauenrechte wiederspiegelt. Meines Erachtens funktioniert das, weil Karen Köhler es erscheinen lässt wie eine natürliche Entwicklung, ein organisches und nicht erzwungenes Gesamtbild. Und ihre Heldin ist glaubhaft, stark und einnehmend genug, um diese Geschichte zu tragen.

Manche Rezensenten bemängeln, „Miroloi“ sei eigentlich ein Jugendbuch. Zu naiv sei die Hauptfigur, zu erzwungen und platt die Botschaft. Ich habe das nicht so empfunden, obwohl das Buch sicher auch für Jugendliche geeignet ist. Ja, manche Szenen holpern, klingen nicht ganz stimmig, manchmal ist die Botschaft sehr LAUT UND ÜBERDEUTLICH. Aber die Einfachheit der Sprache und der Botschaft war für mich ein klares Resultat der gezielten Unterdrückung und Unbildung der Protagonistin – und damit eher ein Stilmittel als ein Mangel.

Das Ende mag polarisieren. Es ist konsequent, mehr möchte ich dazu hier nicht sagen.

Fazit

Hier auf der Insel gibt es nur das schöne Dorf. Hier sind die Rollen klar verteilt: die Männer haben alle Rechte, die Frauen keine. Die Erzählerin ist sogar noch machtloser als ihre Geschlechtsgenossinnen, denn als Findelkind hat sie keinen Namen, darf daher keinen Besitz ihr eigen nennen und wird irgendwann sterben, ohne dass jemand das Miroloi, ihr Totenlied, für sie singt.

Daher singt sie es im Kopf schon mal für sich selber.

Doch das ist nicht das ganze Ausmaß ihrer Rebellion. Sie lernt Lesen, sie versteckt Gegenstände, die sie als ihre betrachtet, sie verliebt sich in einen Betschüler, dem die Religion Keuschheit vorschreibt. Und sie entdeckt, wie die Obrigen das heilige Buch einsetzen, um Menschen zu kontrollieren.

Für mich ist „Miroloi“ ein ganz starkes Buch, über das ich sicher noch öfter nachdenken werde. Es geht nicht nur um Frauenrechte, sondern auch um Bildung und Religion und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft.

Diese Rezension erschien zunächst auf meinem Buchblog:
https://wordpress.mikkaliest.de/rezension-karen-koehler-miroloi/