Rezension

Eine Sommer mit Shakespeare

Sweet Sorrow - David Nicholls

Sweet Sorrow
von David Nicholls

Bewertet mit 4 Sternen

David Nicholls hat es mit seinem Roman „Sweet Sorrow“ geschafft, mich 500 Seiten lang zurück in meine Jugend der 90er zu versetzen. Zurück in eine Zeit mit Festnetztelefon, Musik auf CDs, Konsolenspiele im Pixellook und einem Sommer, in dem ich Nachmittage im dunklen Kinosaal verbrachte, um mir die Verfilmung von William Shakespeares „Romeo und Julia“ immer wieder anzuschauen. Auch wenn Leonardo di Caprio nicht meine erste Wahl für den Romeo gewesen wäre, so verzauberte mich die Kombination von modernem Setting, rasanten Filmschnitt und Shakespearscher Sprache ungemein. Der Soundtrack zum Film gehört bis heute zu meinem Lieblingsalben und mit Claire Danes, von mir bereits geliebt als schüchterne Angela in der Serie „Willkommen im Leben“, konnte ich mich auch als Julia identifizieren. Mit der ersten Liebe wollte es in den 90ern aber nicht so gut klappen, da hatte Charlie in David Nicholls Geschichte ein besseres Händchen, obwohl ich mein Leben damals nicht mit seinem hätte tauschen wollen. Nicholls Protagonist wirkt nach außen wie eine typische 16jährige männliche Dumpfbacke. Ein hormongesteuerter Teenager ohne rechte Hobbys, mit ätzenden Freunden und einem Hang zu kriminellen Aktionen. Die Beziehung zu seinen Eltern ist für Charlie gerade äußerst schwierig, den Schulabschluss hat er höchstwahrscheinlich in den Sand gesetzt und statt eines aufregenden schulfreien Sommers muss er plötzlich viel zu viel freie Zeit allein totschlagen. An einem dieser einsamen Nachmittage stolpert Fran Fisher in ihn hinein und schleppt ihn unversehens in eine völlig neue Welt, in der Shakespeare die Hauptrolle spielt und Charlie in ungewohntem Terrain ganz neue Seiten an sich entdeckt.

Wer durch den gelesenen Klappentext von Nicholls mittlerweile fünftem Roman eine klassische Liebesgeschichte erwartet, der wird wohl enttäuscht werden. Natürlich spielt die erste Liebe hier eine Rolle, aber es entspinnen sich noch viel weitere Themen in diesem Text. Allein Charlies Erzählperspektive auszuhalten, ist als Leser zuweilen anspruchsvoll für Geduld und Nerven. Erst nach und nach lässt Nicholls seine Hauptfigur auftauen. Dass der verschlossene, rüpelhaft wirkende Junge eine schwere Zeit durchlebt, mit der er nur schwer umgehen, geschweige denn darüber sprechen kann, ist zwar ersichtlich, aber offenbart sich in seiner ganzen tragischen Breite erst nach vielen Seiten. Manch ein Leser mag dann schon genervt aufgegeben haben. Dennoch nimmt mich gerade diese Erzählentscheidung des Autors sehr stark für ihn und seinen Text ein. Ich finde es sehr erfrischend, dass mir Nicholls keine 08/15 Herz-Schmerz-Geschichte um die Ohren haut, sondern eine Art Coming-of-Age-Story aufbaut, an der am Ende das Erwachsen-geworden-sein steht. Punkt. So, wie auch ich erwachsen geworden bin und mich freue, mit Charlie, Fran, Helen und Alex für einen kurzen sentimentalen Moment nochmal in diese wichtigen Jahre meines damals jungen Lebens abzutauchen und mich zu erinnern an diese aufregende, langweilige, unsichere, hoffnungsvolle Zeit, die mich natürlich prägte, so wie sie auch Charlie und die anderen Figuren prägte. Es ist ein Nachdenken über Herkunft und Familie, unterschiedliche Startbedingungen, verpasste und ergriffene Chancen, über Freundschaft und über Liebe.