Rezension

eine Stück Zeitgeschichte, großartig erzählt

Rheinblick - Brigitte Glaser

Rheinblick
von Brigitte Glaser

Bewertet mit 5 Sternen

Lang ist`s her, dass das eher provinzielle Bonn pulsierender Mittelpunkt deutscher Politik gewesen ist. Für mich, die ich in dieser Zeit groß geworden bin, ein interessantes Thema und gleichzeitig eine Reise zurück in meine Jugend.

Brigitte Glaser liefert jede Menge Zeit- und auch Lokalkolorit, schneidet eine Reihe von Themen an, die die Menschen damals (und zum Teil auch heute noch) bewegt haben. Wobei es ihr bestens gelingt, alles in einer fesselnden Mischung zu verbinden, ohne sich zu verzetteln. Tatsächlich hatte ich nie das Gefühl, dass etwas fehlt bzw. zu oberflächlich abgehandelt wurde.

1972 - zwei Wochen aus dem Leben von Menschen, die stellvertretend für ihre Zeit stehen, aber gleichzeitig auch irgendwie zeitlos wirken.  Obwohl man sie nur durch wenige Tage begleitet, schafft es die Autorin, ihnen echte Tiefe zu verleihen, sie greifbar und authentisch wirken zu lassen.

Da gibt es Hilde, Wirtin des titelgebenden Lokals Rheinblick, das gar nicht am Rhein liegt *g*, und in dem die Politprominenz ein- und ausgeht. „Neutrales Gelände“ soll es sein, Hildes absolute Direktive. Und doch stellt sich heraus, dass auch sie ihren Prinzipien untreu geworden ist, sich in Ränke hat verwickeln lassen. Sei es aus Not oder aus Freundschaft – es belastet und bedrückt sie.

Nach überstandenem Misstrauensvotum und den gewonnenen Wahlen hat Kanzler Willy Brandt Probleme mit seiner Stimme und muss sich einem Eingriff unterziehen. Hier kommt Sonja Engel ins Spiel, jung, hübsch und klug, die aufgrund der Erfahrungen in ihrem Elternhaus „immer mit dem schlimmsten rechnet“. Sie ist Krankenschwester mit logopädischer Ausbildung und eine exzellente Beobachterin. Ihre Aufgabe ist es, den Kanzler nach der OP stimmtherapeutisch zu betreuen, eine zwar ehrenvolle und interessante, aber auch undankbare Angelegenheit…

Für Auflockerung und Leichtigkeit in der Geschichte sorgen der ebenso leichtlebige wie liebenswerte Max Dorando, ewig klammer, taxifahrender Student und Lotti, die eines Tages in die Bonner WG geschneit kommt. Lotti ist eine kleine und eher unscheinbare Nachwuchsreporterin aus der badischen Provinz, aber wunderbar erfrischend und lebenslustig, obwohl auch sie auf keine leichte Kindheit zurückblickt. Wie sie es hingekriegt hat, diese Reportage in Bonn zu ergattern – wow! In Sachen Selbstbewusstsein kann sich Sonja eine Scheibe bei ihr abschneiden, hab ich mir beim Lesen gedacht, und sie ist klug genug, das auch zu tun.

Der politische Hintergrund nimmt nicht den größten Raum ein, ist aber durchaus wesentlicher Bestandteil. Bei den inner- und überparteilichen Rangeleien und Intrigen bleibt einem manchmal schier die Spucke weg, ganz wie heutzutage auch. Manche Dinge ändern sich einfach nicht *gg*. Besonders interessant, gerade für die älteren Leser, sind die Begegnungen mit vertrauten Namen,  die teils inzwischen verstorben sind, aber teils auch heute noch eine Rolle spielen. Wie z.B. der junge Wolfgang Schäuble, hier ein aufgehender Stern am Polithimmel.

In diesen ohnehin schon komplexen Plot knüpft die Autorin einen weiteren Handlungsfaden, das Rätsel um „Sally Bowls“. Sonja kam in Kontakt zu ihr, als das junge Mädchen verletzt und verstört in der Klinik behandelt wurde. Was ist ihr zugestoßen, warum hat sie nicht gesprochen – und weshalb ist sie von dort geflohen. Das Schicksal dieses Mädchens scheint anfangs eher eine Nebenrolle zu spielen, gerät aber nie ganz aus dem Blickfeld. Wie Brigitte Glaser die Fäden rund um die Sache mit „Sally“ zusammenlaufen lässt, finde ich unglaublich gut gemacht – überraschend, aber gleichzeitig stimmig und glaubwürdig.

Ich könnte noch viel mehr über „Rheinblick“ schreiben, weitere Details aufzählen, warum es mir so unglaublich gut gefallen hat, aber da ich lange und ausschweifende Rezensionen selbst nicht gern lese, war es das jetzt. Nur dass es auch eine herzerwärmende, ganz und gar zauberhafte kleine Liebesgeschichte gibt, darf auf keinen Fall unerwähnt bleiben.

Ein großartiger Roman, erzählerisch und stilistisch erstklassig.