Rezension

Eine süßsaure Geschichte

Eine Geschichte der Zitrone - Jo Cotterill

Eine Geschichte der Zitrone
von Jo Cotterill

Bewertet mit 4 Sternen

Calypso ist einsam und ahnt es nicht einmal. Erst als Mae neu in die Klasse kommt, wird ihr bewusst, wie allein sie immer war. Rasch spinnt sich eine Freundschaft, weil beide Mädchen Bücherwürmer sind.

"Eine Geschichte der Zitrone" ist eigentlich ein Kinderbuch, das sich von Inhalt und Thematik her genauso an den erwachsenen Leser richtet. 

Calypso lebt mit ihrem Vater allein. Ihre Mutter ist gestorben und damit auch der behütete Teil ihrer Kindheit. Denn sie und ihr Vater haben sich daran gewöhnt, sich von der Außenwelt abzuschotten. Sie lieben ihre Bücher - jeder auf seine Art - und fristen ein zurückgezogenes Dasein, das sich vor allem verschließt.

Als das neue Mädchen Mae in die Klasse kommt, fasst Calypso den Mut und freundet sich mit ihr an. Mit dieser Freundschaft kommt Freude in Calypsos Leben. Sie ahnte nicht einmal, wie schön es sein kann, nicht allein zu sein.

Es ist ein Buch über Freundschaft, Trauer und Einsamkeit, das mir teilweise sehr an die Nieren gegangen ist. 

Calypsos Einsamkeit durchdringt die Seiten. Das Mädchen ist so gut wie auf sich allein gestellt. Sie kümmert sich mehr um ihren Vater als man es umgekehrt behaupten könnte. Doch sie nimmt die Situation an wie sie eben ist, weil sie es auch nicht anders kennt. Sie geht zur Schule, liest gerne Bücher und hat allerhand mit dem Haushalt und täglichen Pflichten zutun.

Ihr Vater hat sich in seiner Trauer verkrochen, indem er ein Buch über Zitronen schreibt. Hauptberuflich arbeitet er als Lektor und widmet sich nebenher seiner Leidenschaft. In seiner Zitronengeschichte kann er sich, seine Trauer und die Welt vergessen. Leider verschließt er auch vor seiner Tochter die Augen und kriegt nichts auf die Reihe.

Als Mae in Calypsos Leben tritt ändert sich alles. Endlich hat Calypso eine Freundin und erkennt, was ihr bisher gefehlt hat. Außerdem merkt sie erstmals, wie schief ihr Familienleben läuft. 

Calypso habe ich sofort ins Herz geschlossen. Sie ist ein liebes Mädchen, das sich um ihr Heim und ihren Vater so gut wie möglich bemüht. Sie schaut, dass er nicht auf's Essen vergisst, liebt das Lesen und ihre Bücher über alles und trauert heimlich um ihre Mutter, weil ihr Vater keine Rührseligkeiten zulässt. Dabei möchte man sie am liebsten in die Arme schließen, sie mal richtig drücken und knuddeln, weil solche Gesten in ihrem Leben fehlen.

Es ist bezaubernd wie sich die Freundschaft zwischen Calypso und Mae entwickelt. Die Mädchen finden sich, sie verbindet die gleiche Leidenschaft - natürlich Bücher - und gemeinsam starten sie etliche Projekte, die sogar Calypsos Vater aus seiner Lethargie reissen. Doch in welche Richtung sich das Geschehen entwickelt, verrate ich an dieser Stelle natürlich nicht.

Manchmal ist dieses Kinderbuch wunderschön, dann wieder traurig-depressiv. Auf jeden Fall hält es viel Stoff zum Nachdenken bereit. 

Neben den entzückenden Szenen und leichten Passagen um die Freundschaft der Mädchen, nimmt ein Großteil der Geschichte sehr düstere Züge an. Für ein Kinderbuch ist es mir um eine Spur zu ernst und zu traurig. Natürlich kann ich als Erwachsene nicht abschätzen, wie Calypsos Leben tatsächlich auf zwölfjährige Kinder wirken mag. Mich hat es jedenfalls teilweise stark mitgenommen.

Sprachlich ist das Buch Calypsos Alter angepasst. Sie erzählt ihre Geschichte selbst und schafft es, Beweggründe und Entwicklungen nachvollziehbar darzustellen. Auch für den erwachsenen Leser sind ihre Gedankengänge glaubhaft dargestellt und haben mich trotz des kindlichen Charakters überzeugen können.

Für mich ist „Eine Geschichte der Zitrone“ eine süßsaure Geschichte über ein trauriges Mädchen, das aus einem gefühlsleeren Zuhause ausbricht, und damit das Leserherz bewegt.