Rezension

Eine tröstliche Geschichte vom Abschiednehmen

Mary, Tansey und die Reise in die Nacht - Roddy Doyle

Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht
von Roddy Doyle

Bewertet mit 4.5 Sternen

Die zwölfjährige Mary leidet gerade darunter, dass ihre Freundin Ava in einen anderen Stadtteil Dublins umziehen musste. Marys Großmutter, die dem Mädchen so gern Märchen vorlas, liegt im Sterben. Da taucht eine sonderbar altmodisch wirkende Frau auf, die sich als Tansey, die Mutter der sterbenden Großmutter vorstellt. Tansey musste nach ihrem frühen Tod in der Figur eines Geistes zurückkehren, um sich zu vergewissern, dass es ihrer kleinen Tochter Emer gut geht. Vier Generationen von Frauen treffen aufeinander und begeben sich gemeinsam auf eine tollkühne Spritztour: Urgroßmutter Tansey, Großmutter Emer (das mutterlos aufgewachsene kleine Mädchen), deren Tochter Scarlett (Marys Mutter) und Mary selbst. Mary wird durch die Begegnung mit Tansey klar, dass ein sterbender Angehöriger dann loslassen kann, wenn er sich überzeugt hat, dass seine Liebsten gut versorgt sind. Wahrscheinlich braucht Mary diese Begegnung, um sich selbst in der Familientraditon des Geschichtenerzählens wahrzunehmen. Großmutter Emer konnte nämlich nur so fesselnd von ihrer Kindheit erzählen, weil ihre Großmutter ihr die Ereignisse aus ihrem dritten Lebensjahr mit nicht endender Geduld immer wieder erzählte. Schon in Emers Kindheit lebte die Familie mit den Erinnerungen an ihre Toten und hielt den Stuhl des verstorbenen Großvaters in Ehren. Wenn Mary zu ihrer Großmutter aufs Krankenhausbett hüpft, wünschen sich wahrscheinlich beide, Mary würde immer ein kleines Mädchen bleiben. Doch Mary spürt schon, dass sie sich bald verändern wird. Sie hofft, dass sie dann nicht so sein wird wie ihre pubertierenden Brüder, deren Rüpelhaftigkeit die Familie so gelassen erträgt wie alles andere.

Roddy Doyle stellt in seiner kurzen Geschichte in einfacher Sprache eine Familie vor, die einen besonders liebevollen Umgang und einen sehr speziellen Humor pflegt. Marys Mutter allein verbraucht beim Sprechen mehr Ausrufezeichen als mehrere andere Menschen zusammen. Die Begegnung mit Tansey verdeutlicht Mary die für ihre Familie charakteristische Prägung der Tochter durch die Mutter und erleichtert ihr den Abschied von der sterbenden Großmutter. Marys Geschichte sehe ich nicht allein als Jugendroman, sondern als Buch für jeden, den das Thema Abschied bewegt. (ab 12 Jahre)