Rezension

Eine ungewöhnliche Kinder- und Jugendfreundschaft im Neapel der 50er Jahre

Meine geniale Freundin - Elena Ferrante

Meine geniale Freundin
von Elena Ferrante

Bewertet mit 4.5 Sternen

Die 66jährige Lila aus Neapel ist verschwunden. Ihr missratener Sohn macht sich Sorgen und ruft ihre langjährige Freundin in Turin an, Elena. Die weiß, dass Lila schon lange den Wunsch hatte, spurlos zu verschwinden (kein Selbstmord):

"Sie wollte sich in Luft auflösen, wollte, dass sich jede ihrer Zellen verflüchtigte, nichts sollte mehr von ihr zu finden sein." (S. 19)

Das scheint ihr nun gelungen zu sein und ihre Freundin Elena ist maßlos wütend darüber. "Mal sehen, wer diesmal das letzte Wort behält", sagt sie und beginnt, ihre und Lilas Geschichte aufzuschreiben, die Geschichte einer Freundschaft, die in der Kindheit begann.

Dieser erste Band einer Reihe von vier erzählt von Elenas und Lilas Kindheit und Jugend in den 50er Jahren in einem ärmlichen Viertel von Neapel. Streit, Handgreiflichkeiten und Gewalt sind an der Tagesordnung und prägen den Alltag der Bewohner des 'Rione'. Ich finde es genial, wie die Autorin von den Schrecknissen und Ängsten in der Kindheit so erzählt, dass man sie deutlich vor sich sieht und spürt. Man wünscht, man könnte ebenso von eigenen Erlebnissen erzählen und sie lebendig werden lassen. Dabei ist es immer Lila, die voran geht und Elena mitreißt.

"Sie wusste, wie man Grenzen überschritt, ohne je wirklich die Konsequenzen dafür zu tragen."

Das gilt auch für die Schule und das Lernen. Beide Mädchen sind sehr intelligent, haben es aber schwer mit ihren Eltern und dem Umfeld. In der Schule stacheln sie sich gegenseitig an, machen sich Konkurrenz, möchten einander ausstechen und doch fühlen sie sich unwiderstehlich voneinander angezogen. Sie entfernen sich voneinander, als Elena auf Drängen der Lehrer weiter zur Schule geht, Lila dagegen, die sich selbst lateinische und griechische Grammatik beigebracht hat, ihrem Vater in der Schusterwerkstatt hilft und ihrer Mutter im Haushalt. Bei Elena bleibt die Sehnsucht, an Lilas Leben teilzuhaben:

"… die Angst, mein Leben könnte an Intensität und Gewicht verlieren, wenn ich Teile ihres Lebens verpasste." (S. 265)

Der Roman hat mir sehr gut gefallen, auch wenn ich ihn in der zweiten Hälfte etwas zu langatmig fand. Ich bin gespannt auf drei weitere Folgen, die alle 2017 erscheinen sollen.

Die Autorin Elena Ferrante möchte anonym bleiben, was ich angesichts des heutigen Literaturbetriebs gut verstehen kann. Aber egal, welche Gründe sie hat, dieser Wunsch sollte respektiert werden und muss nicht in den Hype namens #FerranteFever ausarten. Den würde ich als Leser des Buches ganz außer Acht lassen und nur die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft und eine interessante Milieuschilderung sehen.