Rezension

Eine Welle des Entsetzens

Atemnot - Ilsa J. Bick

Atemnot
von Ilsa J. Bick

Bewertet mit 3.5 Sternen

Ich rede um den heißen Brei herum, das weiß ich. Ich will dir diese Geschichte nicht erzählen, Bob, und weißt du auch, warum? Weil das ein Märchen mit Zähnen und Klauen ist, und weißt du, was ich überhaupt nicht abkann: Dass du Schwarz und Weiß willst, Gut und Böse. Ich glaube nicht, dass ich dir so was vorsetzen kann, Bob. Das ist doch das Problem mit der Wahrheit. Die Wahrheit kann manchmal sehr vieldeutig sein, oder sie kann wie ein Abklatsch klingen.
Aber jetzt sag ich dir die Wahrheit, Bob: Ich bin eine Lügnerin. Ich bin ein Glückskind, eine Lügnerin, eine Streberin, eine Prinzessin, ich habe gestohlen - und getötet.
S. 15
Der Anfang dieses Buches schmeißt dich ins eiskalte Wasser und im wahrsten Sinn die Protagonistin! Von Tauchern wird Sie im Winter aus einem See geborgen. Verwirrt fragt Sie den Detektiv ob Sie nun verhaftet wird. 
"Hör zu, Jenna, ich muss wissen, was vorgefallen ist." Er macht eine Pause. "Verstehst du denn nicht? Du bist hier das Opfer." S. 8
Und so gibt der Detektiv ihr ein Diktiergerät auf das Jenna ihre Geschichte erzählen soll. Und die hat es ganz schön in sich!
Nach einem längeren Aufenthalt in der Psychiatrie, kommt Jenna an eine neue Schule. 
Ich schwör's, es war ein Gefühl als würden sich eine Million Augen in meinen Rücken bohren, die alle nur darauf warten, dass ich stolpere oder rülpste oder einen fahren ließ  oder alles gleichzeitig. S. 41
Als wäre es nicht schwer genug, die Neue an der Schule zu sein und sich dort behaupten zu müssen, warten zu Hause noch viel schlimmere Probleme. Da sind zum einen ihre alkoholkranke Mutter und ihr diktatorischer Vater, liebevoll durchs ganze Buch auch Psycho-Dad genannt. Es lasten viel zu große Probleme auf dieser 16 Jährigen, die ein Ventil sucht, indem Sie sich ritzt. 
Mein ganzer Körper war ein einziger Flickenteppich, ein Patchwork aus Narben und Erinnerungen, die man sich lieber nicht zu genau ansehen sollte. S. 54
Und so folgt man Jenna, Seite für Seite auf der immer mehr Geheimnisse aufgedeckt werden, der seelische Schmerz nimmt kein Ende. Ich hatte das Gefühl geradezu "überladen" zu werden mit negativen Empfindungen!
Die Wahrheit ist doch, Bob: Man kann so schnell rennen, wie man will, die Vergangenheit wird man trotzdem nicht los. Ein tintenschwarzes, gesichtsloses Ding, das sich an deine Füße heftet und nur vom grellsten Licht vernichtet werden kann, und auch dann nur für ein paar Augenblicke, solange die Sonne am stärksten auf dich runterknallt und den Schatten, deine Vergangenheit, zu Asche verbrennt.
S. 23
Bick's hat in meinen Augen zu viele, durchaus wichtige Themen, in die Geschichte aufnehmen wollen, ohne diesen dabei gerecht zu werden. So hatte ich zwar Mitleid, war stellenweise richtig wütend, aber stellenweise verlor die Geschichte an Glaubwürdigkeit, weil ihr die Tiefe fehlte. 
Auch die schnulzigen Szenen stehen im starken Kontrast zur überwiegend düsteren Atmosphäre, die uns kaum Luft gibt zum durchatmen und wirken dabei zu aufgesetzt, zu gewollt, einfach deplatziert. 
Zudem gibt es im Buch eine Stelle, auf die ich nicht näher eingehen kann, ohne zuviel zu verraten, die ich für ein Jugendbuch unpassend finde. Nicht, wegen der Thematik. Nein, ich finde auch Jugendliche sollten mit Themen konfrontiert werden, die eben in der Welt passieren. Und es ist nun mal nicht alles FriedeFreudeEierkuchen. Und es gibt durchaus auch jugendliche Leser, die sich vielleicht in ähnlichen Situationen befinden wie die Hauptprotagonistin Jenna.
Nein, es geht mir viel mehr um die Auflösung bzw. eher um die Unterlassung einer Auflösung und die damit entstehende Botschaft! An dieser Stelle hätte die Autorin in meinen Augen mehr aufs Geschehen einwirken müssen, auch wenn ich erkenne, dass damit Jenna's familiäre Situation und deren "Zusammenhalt" gezeigt werden sollte.
Trotz einiger Schwächen, wird ein enormer Spannungsbogen gezogen, der einen das Buch schnell durchlesen lässt. Die Idee dahinter finde ich ebenso stark wie das Fazit das man daraus ziehen kann! Es ist etwas neues, was trotz seiner düsteren Geschichte stellenweise sogar Kraft schenken kann und Mut machen will.