Rezension

Eine wunderliche Kuriosität

Die Chroniken der Meerjungfrau - Der Fluch der Wellen -

Die Chroniken der Meerjungfrau - Der Fluch der Wellen
von Christina Henry

Bewertet mit 4 Sternen

Es war einmal ein einsamer Fischer, der eine Meerjungfrau fand. Die Meerjungfrau war vom Wesen des Fischers gerührt und blieb bei ihm. Sie leben glücklich bis ans Ende seiner Tage. Doch die Meerjungfrau war unsterblich und ein Zirkusbesitzer war glücklich, dass er eine Meerjungfrau für seine Ausstellung fand.

„Die Chroniken der Meerjungfrau - Der Fluch der Wellen“ ist eine weitere düstere Märchenadaption von Christina Henry, welche mich bereits mit ihren Interpretationen von „Peter Pan“ und „Alice im Wunderland“ ins Staunen versetzte.

Wichtig ist meiner Meinung nach, dass man ohne Erwartungshaltung an Henrys Idee der Meerjungfrau geht, weil die Autorin bisher mit Brutalität und versiertem Horror-Ambiente glänzte. Der Fluch der Wellen spricht zwar ebenfalls das Grauen an, doch auf eine andere Weise, was gegebenenfalls zu Enttäuschung bei der Lektüre führt.

Zuerst ist es ein übliches Märchen, wie man es aus berühmten altehrwürdigen Sammlungen kennt. Der Fischer und die Meerjungfrau werden ein Paar, sie sind glücklich mit ihrem bescheidenen Leben, bis der Fischer das Ende seiner Tage erreicht. Dieser Part ist in einer entsprechenden märchenhaften Weise beschrieben. Daraufhin nimmt der Stil einen moderneren Anstrich an.

Die Geschichte spielt in einer Zeit, in der Aussteller und Museen mittels Kuriositäten-Kabinett das Publikum bannten. Bärtige Frauen, kleingewachsene Männer, siamesische Zwillinge oder eben eine Meerjungfrau lockten Scharen von Menschen, die gerne staunten, an.

Sehr gut gefallen hat mir diesbezüglich der kleine Seitenhieb auf die bekannte Meerjungfrau-Mumie, welche zur Hälfte Mensch und zur Hälfte Fisch zu sein scheint und die letzten 40 Jahre in einem japanischen Tempel aufbewahrt wurde.

Christina Henrys Meerjungfrau, Amelia genannt, nutzt den Ruf der Kuriositäten für sich. Sie verfolgt eigene Ziele und ist eine selbstbestimmte Frau, die selbstbewusst verhandelt, Privilegien einfordert und sich die Gier des Eigentümers zunutze macht.

Das Kernthema ist trotz des märchenhaften Gewands meinem Empfinden nach, die weibliche Rolle im Zeitverlauf. Jemanden wie Amelia hat diese Epoche, unabhängig von der fischigen Gestalt, selten gesehen. Als Kontrast werden ihr Damen von damals gegenübergestellt. Die Autorin arbeitet weibliche Rollenvorstellungen im historischen Kontext heraus, gibt ihnen einen märchenhaften Touch und schafft trotzdem ein Bewusstsein dafür.

Gleichzeitig wird verdeutlicht, dass die Umstände nicht immer zugunsten von Toleranz und Nächstenliebe sind, und manch großherzige Grundhaltung im Lauf des Lebens auf der Strecke bleibt.

Gefehlt hat ein Spannungsbogen, weil die Geschichte plätschert. Nachdem sich Amelia in die Fänge des Geschäftsmanns begibt, tut sich nicht besonders viel, außer, dass sich das Leben vor ihr offenbart, was an und für sich schon ein gewaltiger Akt ist. Sie merkt sozusagen, wie der Hase läuft, und lernt sich selbst, ihr Wesen, ihre Wünsche und Bedürfnisse kennen. Die Geschichte ist einerseits seicht, trotzdem auf eigentümliche Art komplex.

Eingewoben ist außerdem eine leidliche Liebesgeschichte, die weder Fisch noch Fleisch ist, und vielleicht gerade deshalb in Amelias Situation authentisch ist. Den Tod ihres Fischers hat sie nie verwunden und trotzdem öffnet sie, zumindest ein wenig, ihr Herz. Dadurch kommt eine melancholische Grundstimmung auf, die über dem gesamten Roman hängt. 

Es ist eine kuriose Geschichte von Liebe, Trauer, Verlust, Gier, Neid, Hoffnung und Selbstfindung. Mir hat diese Version der Meerjungfrau gefallen, obwohl Christina Henry mit ihrem bisherigen Dunklen-Chroniken-Stil bricht. Diesmal bleibt sie nahe an, teilweise historischen, Themen der Realität, was durchaus für eine interessante Lektüre spricht.