Rezension

Eine wunderschöne Geschichte

Alles, was ich sehe - Marci Lyn Curtis

Alles, was ich sehe
von Marci Lyn Curtis

Man lernt alltägliche Dinge oder eigene Fähigkeiten meist erst zu schätzen, wenn sie nicht mehr existieren, oder wenn man sie einbüßen musste. Wenn ich wählen müsste, auf welche Fähigkeit ich am ehesten verzichten könne, müsste ich lange überlegen. Aber am schlimmsten und irgendwie unvorstellbar wäre es, nicht mehr sehen zu können. Ich hätte bestimmt sehr große Schwierigkeiten, mich an solch ein Leben ohne all die Farben und die wundervollen Naturschauspiele zu gewöhnen. Genau wie Maggie, die literarische Hauptfigur aus „Alles, was ich sehe“ von Marci Lyn Curtis.

Seit Maggie an einer schweren Hirnhautentzündung erkrankte, hat sich ihr Leben komplett verändert. Denn Maggie ist erblindet und hasst das Schicksal, welches ihr auferlegt wurde. Sie möchte keine tapfere Kranke sein und sich nicht an die neuen Umstände gewöhnen. Deswegen verweigert sie sich dem Unterricht, der ihr das noch so neue Leben als Blinde erleichtern würde. Lieber zieht sie sich komplett von allem zurück und meidet ihre bis dahin so wichtigen Freunde. Nach einem Sturz scheint das Unmögliche Wirklichkeit zu werden: Sie kann wieder sehen! Die Welt erscheint ihr plötzlich wieder, wenn auch nur in einem kleinen Sichtfeld, in dem sich ein zehnjähriger Junge namens Ben befindet.

Schon mit den ersten Sätzen dieser Geschichte machte mich Maggie auf eine sarkastische Weise mit ihrer verhassten Welt bekannt und zog mich in ihren Bann:

„Blumensträuße sind nicht so meins. Gegen Blumen an sich habe ich nichts, aber sobald man sie in eine Vase steckt, öden sie mich an. Ein bisschen unheimlich finde ich sie auch. Bitte bewundert meine Schönheit, während ich eines langen, qualvollen Todes sterbe, na, das baut einen doch total auf.“ Seite 7

Ich konnte ihre Trauer um ihr altes Leben absolut nachvollziehen und fühlte mit ihr. Ihre bissige und nüchterne Weltbetrachtung hat mich nebenbei - trotz ihres schweren Schicksals -, oft zum Lachen gebracht. Als Ben in ihre Welt tritt und mit ihm ein Lichtblick aus ihrer verhassten dunklen Welt, ändert sich ihr Gemütszustand und sie fängt an, Hoffnung zu schöpfen, dass sie ihr Leben wieder in den Griff bekommt.

Mit dem altklugen und lebenslustigen Ben wurde eine weitere wichtige und interessante literarische Figur mit der Handlung verwoben. Denn Ben macht ihr mit seinen zehn Lebensjahren bewusst, dass ihr Leben auch viele schöne Dinge für sie bereithält. Es entwickelt sich eine bewegende Freundschaft, die mich als Leser bestens unterhalten hat.
In „Alles, was ich sehe“ geht es aber nicht nur um Freundschaft und Maggies wiedergefundene Sehkraft. In vielen Rückblicken berichtet sie, über die schwierige Beziehung zu ihren Eltern und über das Gefühl als Blinde nichts mehr wert zu sein. Aber auch von einer etwas schwierigen, impulsiven und leidenschaftlichen Liebesgeschichte.

Mit „Alles, was ich sehe“ hat Marci Lyn Curtis mit ihrem wortgewaltigen Schreibstil eine wunderschöne und sehr emotionale Geschichte kreiert. Die gelungene Mischung aus schwierigen, bedeutsamen aber auch heiteren Themen, gepaart mit einer angenehmen Prise Sarkasmus und den authentischen und facettenreichen Figuren, haben mir viele schöne und unvergessliche Lesemomente beschert. Über den kleinen Logikfehler bezüglich der wiedergewonnenen Sehkraft konnte ich hinwegsehen und ihn unter „künstlerische Freiheit“ verbuchen.

„Alles, was ich sehe“ von Marci Lyn Curtis ist bereits das dritte Schmuckstück aus dem Frühjahrsprogramm „Augenblicke“ vom Königskinder Verlag, welches mich wieder restlos überzeugen und begeistern konnte. Jedes einzelne Buch beherbergt eine ganz besondere und tiefsinnige Geschichte und wurde vom Verlag mit viel Liebe zum Detail gestaltet, was mich dazu veranlasst hat, mir das gesamte Programm zu kaufen.

 

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