Rezension

Eine Zeitreise zwischen Orient und Okzident

Die Straße der Geschichtenerzähler - Kamila Shamsie

Die Straße der Geschichtenerzähler
von Kamila Shamsie

Bewertet mit 5 Sternen

Die Handlung des Buches findet in der turbulenten Zeit zwischen 1914 und 1930 statt. Die Protagonistin ist Vivian, eine junge Engländerin, die gegen damalige gesellschaftliche Konventionen verstößt, um ihren Traum von der Arbeit als Archäologin zu verfolgen. In der Erforschung der Antike findet sie Bindeglieder zwischen dem lange Vergangenen und der Gegenwart und erlebt das Faszinosum, Geschichten aufzudecken, die uns alle vereinen. Im Fokus steht dabei die Suche nach einem Artefakt des Skylax, der in der Antike ein bedeutender Entdeckungsreisender war.

Der Aufhänger der Geschichte ist eine Liebesgeschichte, die sich zwischen der jungen Vivian und dem etablierten Archäologen Tahsin Bey abspielt. Durch ihn kann Vivian an ihrer ersten Ausgrabung teilnehmen. Der Ausgang dieser Liebesgeschichte bleibt in Wirren des ersten Weltkriegs ungewiss. Vivian folgt noch während des Krieges einem Hinweis Tashins, der sie nach Peschawar führt, wo sie sich auf die Suche nach dem Stirnreif des Skylax begibt. Zuvor wird ein zweiter Handlungsstrang eingeflochten, in dem ein junger Söldner namens Quayyum aus dem von den Briten besetzten Indien (heute pakistanisches Gebiet) auf europäischen Boden für eine Sache kämpft, die eigentlich nicht seine ist. Die beiden Handlungsstränge werden später zusammengeführt, indem Vivian den Najeeb, den kleinen Bruder Quayyums kennen lernt und in Altertumskunde unterrichtet. Ihrem gelehrigen Schüler wird klar, dass es bei der archäologischen Forschung auch um die Geschichte seines Volkes und damit auch um seine Geschichte geht und wie diese auch noch in die Gegenwart ausstrahlt. Najeeb wird im weiteren Verlauf der Geschichte noch eine wichtige Rolle zukommen. Er wird Vivian viele Jahre später nocheinmal wiedersehen, erneut in unruhigen Zeiten, in denen der Aufstand gegen die kolonialen Besatzer seinen auch blutigen Zenith erreicht.

Kamila Shamsie hat hiermit einen sehr gut recherchierten Roman geschrieben. Er strotzt einerseits vor Sachkenntnis über die Zeitgeschichte und die Geschichte des Altertums, kann aber gleichzeitig mit liebevoll ausgestalteten Charakteren und einer wunderschönen Sprache den Leser vollends in seinen Bann ziehen. Die atmosphärische Dichte resultiert auch aus dem geschickten Wechsel der Perspektiven und der plastischen Schilderungen von Orten und Handlungen. Was aber auch dazu beiträgt, dass dieses Buch ein so großes Kunstwerk geworden ist, ist die ansteckende Begeisterung der Autorin für die orientalische Erzähltradition. So finden sich viele kleine Geschichten in der Geschichte, durch die sie so facettenreich und faszinierend wird.

Das Buch ist mit seinem Anspruch keine Mainstreamunterhaltung, aber es macht trotzdem Spaß, es zu lesen. Darüber hinaus macht es neugierig, sich eingehender mit den historischen Zusammenhängen zu befassen und es beleuchtet einen Teil einer Geschichte, die auch unser aller Geschichte ist. Für mich ist es eines der literarischen Höhepunkte dieses Jahres.