Rezension

Einfühlsamer Roman

Das Leben wartet nicht - Marco Balzano

Das Leben wartet nicht
von Marco Balzano

Bewertet mit 4 Sternen

Hoffnung und Elend der 1960er Jahre in Italien

"Manche werden als Hauptstraße geboren, manche als Sackgasse.“

Marco Balzano lässt in seinem Roman 'Das Leben wartet nicht' den mittlerweile 50-jährigen Ninetto, auch pellerossa ('Hautundknochen') genannt, während eines Gefängnisaufenthalts sein bisheriges Leben Revue passieren, indem dieser aus der Ich-Perspektive beginnend mit der Kindheit in einem ärmlichen Dorf auf Sizilien erzählt. Als Neunjähriger brach er, wie so viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus Süditalien in den 1960er Jahren, auf, um im Norden des Landes ein neues, besseres Leben beginnen zu können. Davon, wie es dazu kam und was Ninetto alles erlebte, handelt dieses Buch.

Das Phänomen der Migration ist kein neues, so aktuell es auch sein mag. Viele werden sich bereits Gedanken gemacht haben, was Menschen dazu veranlasst, ihre Heimat aufzugeben und eine – meist mehr als beschwerliche - Reise ins Ungewisse zu wagen. Das Buch thematisiert hier eine Flucht, die keine Staatsgrenze (die gezogenen Grenzen in den Köpfen der Menschen sind wiederum andere) überschreitet, berichtet von der Glückssuche, dem Überlebenswillen und der Hoffnung. Gerade Letztere zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte: Dass das Leben mehr bereithält und ermöglicht, als es die Gegenwart zu erzählen weiß.

Wie bereits vermutet werden kann, spielt die Geschichte auf zwei Zeitebenen, deren Sprünge nicht klar gekennzeichnet sind und somit ein aufmerksames Lesen von denjenigen, die solches nicht gewohnt sind, erfordert. Da die eine, in der ersten Hälfte dominierende Ebene rückblickend geschildert wird, ist der Schreibstil sehr erzählerisch gehalten, was etwas distanziert wirken könnte, mich jedoch aufgrund der Tatsache, dass der erwachsene Ninetto sein Leben reflektiert, nicht weiter störte. Sobald der Protagonist einzelnen Begebenheiten keine große Aufmerksamkeit schenkt, reihen sich diese manchmal lediglich aneinander an, was nicht jedermanns Geschmack treffen mag. Selbst wenn die Intension dahinterstecken sollte, eine gewisse Monotonie des Alltags hervorzuheben, finde ich sie in diesem Buch nicht gut umgesetzt. Um beispielsweise über Langeweile zu schreiben, sollte der Text auch nicht langweilig sein, wie ich finde. Zum Glück kamen diese Aneinanderreihungen sehr selten vor.

Wenn es um die Beschreibung von Landschaften und Milieus geht, arbeitet der Autor eher skizzenhaft; dennoch hatte ich stets klare Bilder vor Augen. Gerade der Stadt Mailand (weshalb diese lediglich in deutscher Übersetzung zu lesen ist, ist mir zwar schleierhaft, da im Buch Begriffe im Italienischen samt Übersetzung vorzufinden sind, aber sei's drum) wird hierbei viel Raum geboten, zumal der Leser ein  Gefühl für die damalige Zeit des Landes und Themen erhält. Wichtig zu erwähnen finde ich, dass der Autor - meiner Meinung nach - nicht explizit auf Emotionen abzielt, sondern vielmehr einzelne, kleine Szenen oder Dialoge für sich sprechen lässt, was mir sehr zusagte.

"Ich schlage die Zeit tot."

"Du hinderst die Zeit daran, dich totzuschlagen."

Der empfundenen Fremdheit im eigenen Land gibt der Autor ebenfalls wenige, dafür aber prägnante Worte und Momente, ebenso für Ninettos Zeit im Gefängnis. So heißt es hier beispielsweise: „Rein- oder rauskommen ist immer nur ein Moment. Endlos ist die Zeit dazwischen." Besonders gut gefällt mir hierbei die gewählte Syntax. Beim Lesen stieß ich immer wieder mal auf Textstellen, die ich mir ob des Gefallens notierte. Andere Formulierungen wiederum fand ich weniger gelungen, wie beispielsweise: „[...] denn auch die Liebe hat einen Giftstachel und tut weh.“ Hier hätte ich mir Mut zur Lücke, zum Unausgesprochenen gewünscht und „und tut weh“ herausge-strichen, um eine größere Wirkung zu erzielen. Grundsätzlich sagte mir jedoch der ruhige, keinesfalls reißerische oder allzu emotionale Schreibstil zu, der schnörkellos und geradlinig, sowie meist in Form von kurzen Sätzen daherkommt.

Als agierende und denkende Figur fand ich Ninetto sowohl konsequent umgesetzt als auch greifbar aufgrund seiner Licht- und Schattenseiten. Besonders gut gefiel mir, dass der Autor seiner Figur kleine sprachliche Eigenarten in den Mund legte, was dem Ganzen eine gesteigerte Lebensnähe verleiht. Da Ninetto keine lange Schulkarriere hatte, ist die Wortwahl des Romans recht einfach und manchmal etwas umgangssprachlich gehalten, was für mich jedoch kein Kritikpunkt darstellt, da dies vielmehr Ninettos Biographie und Lebensbedingungen gut widerspiegelt.

Summa summarum schneidet das Buch große Themen, wie Hoffnung, Migration, Fremdheit, Liebe, Identität, falsche Entscheidungen, Determinismus und vieles mehr, an. Demjenigen, der sich nicht davor scheut, diesen Themen aufgrund der schmalen Buchdicke in kompakter Form zu begegnen, möchte ich den Roman gerne empfehlen. Ninettos fiktive, aber an vielen Biographien angelehnte Geschichte gibt all jenen, die in den 1960er gezwungen waren, ihr Glück in den italienischen Industriestädten zu suchen, eine exemplarische Stimme.

"So ist es wenn man liebt. Die Zeit reicht nie, und wenn das Herz hüpft vor Ungeduld, lässt es die Uhrzeiger schneller gehen und pumpt Freude bis in die kleinen Zehen."