Rezension

Einmal Selbstliebe im Kaffeebecher, bitte!

Ich bin Linus - Linus Giese

Ich bin Linus
von Linus Giese

Ein Kaffeebecher mutiert zu einem Symbol der Selbstfindung, des sich Loslösens von Ängsten, der erste wichtige Schritt auf einem langen Weg. Die Floskel «sich auf den Weg zu sich selbst zu begeben» könnte auf einem schmalzigen Jahreskalender mit Mutmachern für jeden Tag prangern. Sie beschreibt gleichzeitig ziemlich genau den mutigen Prozess, den Autor Linus Giese in seiner Autobiographie erzählt. 

 

Rau, ehrlich – und wütend

Sein Ton ist ehrlich, rau und in Teilen wutentbrannt; zwischen Autor und Leser:innen gibt es so gut wie keine Distanz. Es ist ein persönliches, intimes Buch, das einen Blick in die tiefsten Abgründe, Ängste, Sorgen und Hoffnungen des Protagonisten ermöglicht. Linus Giese erklärt und hinterfragt sich und seine Vergangenheit: Er hinterfragt seine eigene Persönlichkeit, die Reaktionen seiner Umwelt, er hinterfragt zur Gewohnheit gewordene Denk- und Sprachstrukturen, bürokratisch festgefahrene Abläufe, seine Mitmenschen und er hinterfragt immer, immer wieder sich selbst. 

Ist es ihm nicht erlaubt, zu lieben und geliebt zu werden? Öffentlich auszuleben, wer man selbst ist? Sich tagtäglich auf dem Geschlechterspektrum zu bewegen, anstatt sich konventionellen Vorstellungen zu beugen? 

«Ich bin Linus» spricht den Wert von alltäglicher Zwischenmenschlichkeit an. Zusammenhalt, gegenseitige Solidarität und Toleranz sind es, die uns zusammenschweißen und eine gleichberechtigte Gesellschaft möglicher machen. Ich fieberte mit dem Protagonisten mit – in den vielen bedrückenden Szenen, in denen man sich nichts sehnlicher wünschte, als ihm eine warme Umarmung und ein entlastendes Gespräch zu spenden, aber auch in den kleinen, glücklichen Alltagssituationen, die mir ein Lächeln ins Gesicht trieben und mich ermutigten. 

Marginalisierte Gruppen in Sprache eingliedern

Ich bin dem Autoren für dieses Buch in vielerlei Hinsicht dankbar. Dafür, dass es so inspirierend ist. Noch nie habe ich so viele Post-It-Sticker aufgebraucht, um die Zitate zu markieren, die mich im Inneren bewegen. Während des achtundzwanzigsten Kapitels «Sprache» fühlte ich mich mehrfach ertappt: Altbackene, eher unwillkürlich von mir verwendete Floskeln ohne böse Absicht dahinter verletzen und empören Menschen. Mit meinen Online-Inhalten möchte ich für eine inklusive Sprache stehen, die jedem Individuum Raum zur Entfaltung lässt. Insgesamt ist hier noch einiges an Arbeit zu tun, um marginalisierten Gruppen einzugliedern in unser aller Bewusstsein. 

Und das Buch versucht, die gesellschaftlich antrainierten sozialen Rollen aufzubrechen und Geschlechter weniger als Entscheidungsfrage, sondern als buntes Spektrum anzusehen. In zweifacher Hinsicht etabliert sich Linus zu einer echten Vorbildfigur, ohne es zu wollen. Er spricht aufgeschlossen und reflektiert über die eigenen Selbstzweifel: weshalb es so lange dauerte, bis er sich selbst eingestand, wer er ist, und dass es ein langer Weg zur Selbstakzeptanz ist, der bis zum heutigen Tag andauert. 

Ich fühlte mich aufgefangen und verstanden durch seine Worte, die mir mit ihrer puren Ehrlichkeit durch Mark und Bein gingen. Er präsentiert sich als liebenswürdiger, feinfühliger und individueller Mensch, mit dem ich mich gut identifizieren kann. Jede:r, der eigene Kämpfe mit sich auszufechten hat, stößt hier auf interessante Anregungen, sich mit dem eigenen Charakter auseinanderzusetzen und womöglich sogar anzufreunden. 

Linus Giese ist eine Vorbildfigur

Zudem ist «Ich bin Linus» ein großer Mutmacher für andere trans Personen. Weil die Lektüre ein ermutigendes Vorbild bietet, das der Autor selbst sehnlichst vermisste. Weil sie jedem normabweichenden Gefühl eine Legitimation gibt, wie eine warme Umarmung, die sagt: "Du bist okay und liebenswürdig, so wie du bist." Dadurch, dass das Buch so intime Eindrücke verschriftlicht und wenig Distanz zwischen Autor und den Leser:innen lässt, erzielt es eine eindrückliche Wirkung, die mich lange nicht mehr losließ. 

Trotz einer Buchlänge von "nur" zweihundert Seiten finden sich einige Formulierungsschwächen: Einige Ausdrücke werden wörtlich wiederholt und erwecken einen monotonen Eindruck, der einen faden Beigeschmack hat. Einige Passagen textlich etwas zu straffen, hätte der Lektüre sicherlich gut getan. Wer sich selbst weiter informieren möchte, findet vor allem in den letzten Kapiteln einige interessante Quellen zur eigenen Recherche. Das vorliegende Buch kann ich uneingeschränkt jede:m ans Herz legen. 

 

«Ich bin Linus: Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war» trifft einen so ehrlichen und ungefilterten Ton, dass mich dieses Buch wirklich umgehauen hat. Die autobiografischen Berichte sind mutig und ermutigen Leser:innen im gleichen Atemzug.