Rezension

Eiszeit der Gefühle

Vor der Flut - Corinna T. Sievers

Vor der Flut
von Corinna T. Sievers

Bewertet mit 3 Sternen

Judith ist Anfang 50, Zahnärztin und lebt auf einer Insel in der Nordsee. Sie ist mit Hovard verheiratet, einem pensionierten Psychoanalytiker. Zweimal im Jahr ist Hauptsaison auf der Insel, dann kommen reiche Touristen. Von deren Zahnpflege lebt sie mehr schlecht als recht.

„Ich bin einundfünfzig Jahre, Zahnärztin und Nymphomanin.“ Dieser Satz fasst so ziemlich alles zusammen was Judith ausmacht. Mir unzähligen Männern hat sie, muss sie, sexuell verkehren. Ganz egal, ob Zufallsbekanntschaft, Patient, verheiratet oder nicht. Nur nicht mit ihrem Mann Hovard, diese Ehe ist so schlaff wie Hovards Geschlecht. Hovard weiß von ihren Affären, billigt sie, analysiert sogar Judiths Verhalten sowie das des jeweiligen Sexkandidaten. Judiths Name ist Programm, Holofernes hat viele Köpfe.

Die Autorin Corinna T. Sivers ist nicht nur Schriftstellerin, sondern auch Fachärztin für Kieferorthopädie, die mit der „Prognostizierbarkeit von Schönheit“ promoviert hat. Ob Judith nun das alter ego der Autorin ist sei dahin gestellt. Sie lässt Judith jedenfalls erzählen. Wie sie mit dem Altern hadert und dem Zerfließen von Brüsten und Hintern. Wie sie es mit Hovard aushält, dem platonischen „Ehemann, Arzt und Gefängniswärter“. Finanzielle Gründe lassen Judith bleiben. Dennoch behauptet sie: „Ich bin Feministin, ich bin stolz, aber was nützt das, wenn ich Lust habe, einen Schwanz zu lutschen.“  Da ist sie diese Sprache, explizit, vulgär, pornographisch. Judith lässt nichts aus, die Beschaffenheit ihres Geschlechtsorgans, das ihrer Partner, den Geruch, die Technik beim Akt und der Selbstbefriedigung.

Ziel dieses Romans ist weniger zu erregen, als aufzuregen. Oft spricht Judith die Leserin direkt an, das macht betroffen, unbehaglich.
 „Sollten Sie die Schilderung für entbehrlich halten oder sich gar abgestoßen fühlen, lesen Sie weiter auf Seite zweiundvierzig.“  Jein! Die endlose Aneinanderreihung Judiths manischer Triebbefriedigung langweilt bisweilen. Aber dieser ungewöhnliche Text beschreibt auch eine Frau, die sich bis zur Erniedrigung entblößt. Nicht die ausführliche Beschreibung des Geschlechtsaktes ist das Wesentliche. Nicht das Treiben, sondern die Getriebenheit ist es, die komplexe, schwierige und zerrissene Persönlichkeit der Protagonistin. Judith ist ein sehr fragiler Charakter. Die Dramatik ihres Lebens spiegelt sich wieder in dem Eisblock, der unaufhörlich vom Meer auf ihr Haus zutreibt und dieses zu vernichten droht. Die Eiszeit der Gefühle endet symbolträchtig.