Rezension

Emotionale Nachlässe

Was dir bleibt -

Was dir bleibt
von Jocelyne Saucier

Die Zuglinien im Norden Kanadas werden nach und nach eingestellt. Der namenlose, männliche Ich-Erzähler in Jocelyne Saucier's Roman 'Was dir bleibt', der sich selbst als 'langweiligen Lehrer' einordnet, will für eine Gesellschaft, die sich für den Erhalt der Linien einsetzt, einen Artikel schreiben.

Zufällig wird ihm bei seinen Recherchen die Geschichte der 76jährigen Gladys zugetragen und er macht sich auf, das Finale davon mitzuerleben. Gladys, die eine depressive, selbstmordgefährdete erwachsene Tochter hat, setzt sich eines Tages in den Northlander - den Zug, der kurz vor seinem Ende steht - und fährt kreuz und quer durchs Land. Nachbarn und Freunde sind alarmiert und telefonieren Gladys und ihren Spuren hinterher, doch Gladys ist allen einen Schritt voraus und fest entschlossen, nicht nach Hause zurückzukehren.

Der Erzähler macht sich daran, Gladys Geschichte zu ergründen und interviewt alle, die etwas zu den Beweggründen der Dame beizutragen haben, vor allem Janelle, die junge Frau, die Gladys zu ihrer Begleiterin erkor und in deren Begleitung - und der ihrer Schwester - sie letztlich ihre Reise beendet. 

Gladys entfloh also ihrem Heim und ließ ihre hilfebedürftige Tochter alleine Zuhause zurück. Doch was ist für Gladys 'Zuhause'? In der Tat ist Gladys in den Zügen des Nordens aufgewachsen, in einem sogenannten school train - der fuhr damals etappenweise mit einem Lehrer und seiner Familie an Bord durchs Land und unterrichtete die Kinder in den entlegenen Weiten Kanadas. Zieht es Gladys zurück zu ihren Wurzeln, als sie die Züge besteigt? Sicherlich eine mögliche Interpretation und ein extrem lehrreicher und interessanter Ausflug innerhalb des Buches. Für Eisenbahnliebhaber insbesondere.

Oder ging es ihr darum, jemanden zu finden, dem sie ihre Tochter anvertrauen kann? Diese gewagte These wird in der losen Aneinanderreihung von Gedanken und Episoden des Erzählers zum Schluss aufgestellt. 

Ich glaube jedoch etwas ganz anderes. Meine Interpretation stützt sich auf ein Interview, das ich mit der Autorin gelesen habe und einen einzigen Satz darin. Nämlich, dass es ihr in 'Was dir bleibt' (im Original 'À train perdue') darum ginge, herauszustellen, 'warum jemand schreibt'. Nun, warum schreibt der Ich-Erzähler so viel mehr als den ursprünglich geplanten Artikel? Warum recherchiert er jahrelang und fährt in den Ferien immer wieder zu Janelle oder anderen Gesprächspartnern, um noch eine weitere Lücke in der Geschichte um die Züge im Norden und Gladys zu schließen? Einerseits aus dem Bedürfnis heraus, die Bedeutsamkeit der Züge wie dem Northlander herauszustellen, ihre Geschichte zu erzählen und den besonderen Charme zu vermitteln, den das Reisen in ihnen hat. Stimmungsvoll sind diese Teile des Buches zu lesen wie ein Roadmovie. 

Ich habe aber noch eine andere Antwort: weil er dadurch einen Bezug zu Janelle behält, in die er verliebt ist und zu der er auch eine kurze Beziehung hat. Die Geschichte Gladys ist eng verbunden mit Janelle und je länger sich der Erzähler damit befasst, umso länger kann er den Bezug zu Janelle aufrechterhalten, hat einen Grund sie zu kontaktieren und kann in den Erinnerungen der gemeinsamen Zeit schwelgen. Kein Wunder, dass ihm daher irgendwann der Stoff für sein Buch, zu dem sich der ursprünglich geplante Artikel entwickelt hat, ausgeht und der Leser sich teilweise fragt, was das Erzählte mit der Geschichte Gladys zu tun hat. Nichts - ist die Antwort. Es ist lediglich der letzte Faden zu Janelle. Und auch ein kleiner Wettstreit mit Janelles neuem Freund, wenn man zwischen den Zeilen liest.

Letztlich bleibt dem Erzähler von Janelle und Gladys sogar mehr, als nur die Geschichte, die er aufgeschrieben hat und so ist das wohl mit unseren Lieben - sie hinterlassen nicht nur Andenken, sondern unabhängig davon auch immer einen Schatten, der uns für den Rest unseres Lebens begleitet. - Halt 'Was einem bleibt'.